Mittendrin Mittwoch #21

Ich sah das starke elektrische Licht, das durch die drei vergitterten Erdgeschossfenster einen grellen weißen Schein auf den Gehweg warf, und beneidete bitterlich die Chefin, die da arbeitete, in der inspirierenden Einsamkeit der Nacht, in diesen endlosen, rauschhaften Stunden der Nacht, sie schnippelte, kochte, testete, allein und allmächtig in der dichten Stille der Nacht, wie ich sie damals beneidete, nicht durch die Liebe gefesselt zu sein, zu tun, was sie über alles zu tun liebte, ohne dass irgendjemand oder der schmerzliche Gedanke an irgendjemanden (außer an ihre Tochter, aber war das Liebe, war es nicht vielmehr erdrückende Verzweiflung?) die reine, einfache Freude ihrer Lieblingsbeschäftigung trübte, das auf sich selbst zurückgezogene Schaffen, das vollkommene Glück, dass nichts darum herum oder außerhalb existierte.
Wie ich sie beneidete, ja.
Aber ich würde lügen, wenn ich nicht dazusagen würde, dass ich vollkommen glücklich war, die Chefin zu lieben, wie ich sie liebte.

(NDiaye, Marie: Die Chefin, S. 79)

NDiaye, Marie : Die Chefin
Suhrkamp, 2017

Dieser Roman ist gerade in deutscher Übersetzung erschienen und ich habe für dieses Wochenende meine private Lektüre zurückgestellt, um „Die Chefin“ vorzuziehen. Genauer gesagt steht Marie NDiaye ja schon länger auf meiner Leseliste (seit „Drei starke Frauen„, 2010). Aber jetzt und für ihren neuen Roman gibt es einen triftigen (dienstlichen) Grund, alles andere liegen zu lassen.

Es sind nicht die guten Rezensionen, die pünktlich zum Erscheinungstermin in nahezu allen Feuilletons erscheinen (z.B. hier in der WELT), nicht das aufschlussreiche Interview im Deutschlandfunk Kultur mit der Autorin, auch nicht die Empfehlung unseres Chefs (das konnte ich mir jetzt angesichts des Romantitels nicht verkneifen) – obwohl all das natürlich die Neugier bestärkt. Ja, es ist das aktuelle Buch einer großartigen französischen Schriftstellerin und Frankreich ist Ehrengast der Frankfurter Buchmesse 2017 (Francfort en français / Frankfurt auf Französisch). Auch ein guter Grund. Aber gerade den Literaturinteressierten aus Bielefeld und Umgebung empfehle ich diesen „Roman einer Köchin“ (so der Untertitel), weil wir uns freuen, dass …

Ach, das darf ich ja noch gar nicht verraten!

Also muss ich Ihre Neugier anders wecken. Vielleicht so wie der Ich-Erzähler dieser Geschichte, der uns voller Liebe von seiner ehemaligen Chefin erzählt und, da seine Gefühle unerwidert bleiben, uns die wahren Leidenschaften der Angebeteten, dieser umjubelten und doch seiner Meinung nach unverstandenen Sterne-Köchin, nahe bringen möchte – uns und wohl auch sich selbst zur Erklärung. Doch lässt sich Genialität erklären?

Der kurze Ausschnitt oben zeigt, dass uns die Autorin durchaus auch lange Bandwurmsätze zumutet, folgen wir doch den sprunghaften, mäandernden, von seinen eigenen Emotionen, Erfahrungen, Annahmen und Wunschvorstellungen geleiteten Gedankengängen des Erzählers.

Kochen als Berufung, als Leidenschaft, als Kunst. Nein, der Roman enthält keine Rezepte. Marie NDiaye zieht uns mit ihrer sinnlichen Sprache einfach hinein in die Küche, in die Kompositionen einer begnadeten Köchin, hinein in den genialisch-beglückenden Akt eines auf sich selbst zurückgezogenen Schaffens – das vollkommene Glück.

Vielleicht sollte man diesen Roman nicht mit leerem Magen lesen.

NDiaye, Marie : Die Chefin : Roman einer Köchin. – Suhrkamp, 2017
bestellt

hilda

Elizzy von read books and fall in love hat sich die Blogaktion ausgedacht. Der „Mittendrin Mittwoch“ besteht aus immer neuen Zeilen aus Büchern, in denen wir aktuell wortwörtlich mittendrin stecken.

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