Ein Lied für die Geister / von Louise Erdrich
„Ein Teil von ihm hat schon geahnt, was Romeo ihm sagen würde, und hat nur darauf gewartet. Es hat sich nicht wie eine Neuigkeit angefühlt. Eher wie eine Bestätigung. Jedes Geräusch ist jetzt wie verstärkt. Der Hund, der im Unterholz raschelt. Peter sieht in die Kronen der Pappeln und Birken. In ihrem Laub zittert das Licht. Er kann sich nicht mehr an die Stimme seines Sohnes erinnern. Kann sich kein schönes Bild mehr vor Augen rufen, das es nicht auch als Foto gibt. Stattdessen sieht er ihn im Laub liegen, und während Dusty bisher immer friedlich in einem einzigen, schrecklichen Moment gestorben war, stehen jetzt seine Augen offen, und er ruft um Hilfe. Er hat Angst. Peter schlägt sich gegen den Schädel, um ein anderes Bild herauszuschütteln. Aus den guten Zeiten. Kein Foto. Das echte Leben. Warum hat er sich solche Augenblicke nie eingeprägt?“ (S. 386)
Louise Erdrichs Thema sind die heutigen Nachfahren der First Nations, der Indianer. Da ist kein Platz für Wild-West-Romantik; sie zeigt gebrochene, entwurzelte Menschen, die einerseits ihre kulturelle Identität wieder entdecken und erhalten wollen, gleichzeitig aber auch Teil der modernen amerikanischen Gesellschaft sind oder sein wollen – oder nicht sein können. Sie wurden ihren Eltern entrissen und in Internate gesteckt. Sie sind arbeitslos, tablettensüchtig, depressiv, leben unter prekären Verhältnissen, sind geprägt vom Alltagsrassismus. Sie zerstören sich selbst oder intrigieren gegeneinander. Aber sie stehen auch auf gegen Ungerechtigkeit, Selbsthass und den scheinbar unaufhaltsamen Kreislauf von Rache und Schuld.
Das große Thema in „Ein Lied für die Geister“ ist die Liebe – in allen erdenklichen Facetten und Stufen: vom Verliebtsein bis zur Liebe über den Tod hinaus, von der Selbstaufgabe bis zur Eifersucht, von der Mutterliebe bis zum unendlichen Schmerz des Verlustes eines geliebten Menschen. Ein tödlicher Schmerz, wenn das Herz bricht, Selbstmord der einzig mögliche Ausweg erscheint – oder Mord.
Ich bin bereits fast am Ende des Romans. Zwei Familien stehen am Abgrund ihrer Gefühle. Durch einen furchtbaren Jagdunfall ist der kleine Dusty gestorben. Der unglückliche Todesschütze und seine Frau geben, einem Spruch der Ahnen folgend, ihren geliebten jüngsten Sohn LaRose an Dustys Eltern Peter und Nola. Der Junge versteht nicht, warum er jetzt zwei Mütter haben soll, aber er spürt die Verantwortung. Tatsächlich scheint ein Ausweg aus Trauer, Depression und Todessehnsucht, aus Rachewunsch und Schuldgefühl möglich. Besonders berührend sind die Szenen mit den Kindern der zwei Familien, die ihre ganz eigenen Probleme als Heranwachsende haben, vor allem die vernachlässigte Maggie und ihr neuer Bruder, der einfühlsame kleine LaRose.
Doch der Einzelgänger Romeo hat noch eine alte Rechnung offen und sieht die Chance für seine Rache. Mit einer Intrige will er die beiden Familien, die sich gerade wieder annähern, entzweien und die beiden Männer aufeinander hetzen. Ich bin gerade an der Stelle, an der er die böse Saat gesät hat … .
Der Titel des Romans deutet bereits an, dass die Geister der Ahnen und die Spiritualität der Indianer eine Rolle spielen. Der Roman gewinnt damit noch weitere Ebenen: die vorangegangenen Generationen und ihre Geschichten, die Toten mit ihrer abgeklärten Sicht auf die Lebenden und nicht zuletzt ihrem Humor.
Louise Erdrich nutzt die Erzählung über diese furchtbare Familientragödie, um uns ein Amerika zu zeigen, das in keinem Hollywood-Blogbuster vorkommt. Es sind einfache Menschen, nicht besser und nicht schlechter als jeder andere. Sie sind vor Fragen gestellt, die früher oder später uns alle treffen – hoffentlich nicht mit so einer Wucht, wie in diesem Roman. Aber Verlust, Schmerz, Verzweiflung, Tod. Kann die Liebe da trösten und mit der Zeit heilen? Oder „gewinnen“ am Ende Rache, Schuld und Tod?
Louise Erdrich gelingt ein einfühlsamer, großartiger Roman über diese universellen Themen.
Erdrich, Louise : Ein Lied für die Geister : Roman / aus dem Amerikanischen von Gesine Schröder. – 1. Auflage – Berlin : Aufbau, 2016. – 444 Seiten
Originaltitel: LaRose
Standort: Romane Erdr
Online-Katalog-Daten hier
hilda
Elizzy von read books and fall in love hat sich die Blogaktion ausgedacht. Der „Mittendrin Mittwoch“ besteht aus immer neuen Zeilen aus Büchern, in denen wir aktuell wortwörtlich mittendrin stecken.