Grimms Märchen, wie wir sie nicht kennen
Sie waren nicht die einzigen, nicht einmal die ersten Märchensammler, aber sie wurden die weltweit berühmtesten. Jeder kennt die Märchen der Brüder Grimm. Oder etwa nicht?

Grimms Märchen / hrsg. von G. Jürgensmeier
In insgesamt drei Bänden „Kinder- und Hausmärchen“ (KHM) veröffentlichten Jakob und Wilhelm Grimm zwischen 1812 und 1857 über 200 Märchen einschließlich verschiedener Versionen, Anmerkungen und (leider nur sehr spärlichen) Quellenangaben. Und nein, ich habe (noch) nicht alle Märchen gelesen, kenne viele nicht einmal dem Namen nach. Wie wäre es mit „Der Hund und der Sperling“ oder „Die Nelke“, „Der Hahnenbalken“ oder „Die schöne Katrinelje und Pif Paf Poltrie“. Selbst bei bekannten Märchen erlebe ich so manche Überraschung.
Nehmen wir gleich das erste, KHM Nr.1: „Der Froschkönig oder Der eiserne Heinrich“. Schon den im Titel anklingenden Heinrich, den treuen Diener des verzauberten Prinzen, kennen viele gar nicht mehr. Und wie ist es mit dem berühmten Höhepunkt der Geschichte? Die zickige Prinzessin küsst angeekelt den glibberigen Frosch und *peng* … 🐸💥🤴
Tja, aber so steht das bei den Grimms eben nicht, in keiner einzigen Version (Wilhelm Grimm feilte für jede neue Ausgabe an Sprache und Ausdruck). Tatsächlich wirft das undankbare Prinzesschen den Frosch mit aller Kraft an die Wand, was jedes normale Tier nicht überlebt hätte, doch *peng*… – der Rest ist wieder bekannt:🐸💥🤴…
In den Anmerkungen wird noch eine andere Variante des Märchens aufgeführt, die sogar eine Art Fortsetzung hat, in der ist der Prinz plötzlich der Schuft: Er wird noch vor der Hochzeit untreu; die Prinzessin folgt ihm als Reiter verkleidet und benimmt sich ganz undamenhaft. Na, neugierig? Nachzulesen in Band 3 der Großen Ausgabe der Kinder- und Hausmärchen.
Eine ganz besondere Überraschung war für mich das Märchen KHM 142. Mein Großvater war ein wunderbarer Geschichtenerzähler, natürlich gehörten auch Märchen zu seinem Repertoire. Mir sind seine Eigenkreationen leider nicht in Erinnerung geblieben, aber eine seiner Geschichten war eine seltsame Variante eines bekannten Motivs aus „1001 Nacht“, allerdings als deutsches Märchen erzählt. Ich hatte das für eine dieser eigenwilligen Erfindungen meines Opas gehalten, doch tatsächlich erzählte er wohl „Simeliberg“ nach, zu finden in Band 2 der Kinder- und Hausmärchen. Auch die Grimms bemerkten übrigens die merkwürdige Übereinstimmung mit „dem orientalischen von den vierzig Räubern“ (also der Ali-Baba-Geschichte).
Grimms Märchen, wie wir sie wohl doch nicht kennen. Sie sind das meistübersetzte und weltweit bekannteste Werk der deutschen Literaturgeschichte. Da sollten wir vielleicht einmal genauer lesen und uns nicht nur an einer Disney-Verfilmung, der sonntäglichen ARD-Reihe „6 auf einen Streich“ oder einer modernen Bilderbuchbearbeitung erfreuen. Bekam „Aschenputtel“ ihre Ballkleider nun durch drei Zaubernüsse oder betete sie am Grab der Mutter? Wusstet Ihr, dass „Hänsel und Gretel“ am Ende Hilfe von einer weißen Ente erhalten? Und wer weiß, was bei „Tischchendeckdich, Goldesel und Knüppel aus dem Sack“ aus der verlogenen Ziege wird?
Wem die Große Ausgabe mit all den Anmerkungen zu wissenschaftlich ist: Die Grimms veröffentlichten ab 1825 auch eine Kleine Ausgabe mit einer Auswahl von 50 Märchen – die eigentliche Grundlage ihrer Popularität; die Kleine Ausgabe erreichte noch zu Lebzeiten der beiden Brüder zehn Auflagen. Heute sind unzählige verschiedene Ausgaben auf dem Markt (und natürlich auch in unserer Bibliothek); einzelne Märchengeschichten sind als Bilderbuch veröffentlicht, Märchensammlungen bieten meist eine Auswahl; es gibt an die heutige Sprache angepasste Versionen, kindgerechte Überarbeitungen, moderne Fassungen und herrliche Parodien.

3-bändige Reclam-Ausgabe der Kinder- und Hausmärchen
Doch ich empfehle wenigstens einmal auch einen Blick in die Große Ausgabe: Muss man nicht komplett lesen, aber stöbert einfach mal durch Eure Lieblingsmärchen und lest die Anmerkungen dazu. Es gibt erstaunlich viel zu entdecken.
Wer mehr über die Quellen der Brüder Grimm zu ihrer Volksmärchensammlung erfahren möchte: Der bekannte Märchenforscher Heinz Rölleke hat im Grimm-Jahr 2012 in der ZEIT eine erhellende Zusammenfassung neuerer Erkenntnisse gegeben: Was uns die Brüder Grimm nicht verraten wollten.
Verwendete Ausgaben der Kinder- und Hausmärchen:
Kinder- und Hausmärchen / Jacob u. Wilhelm Grimm. – Jubiläums-Ausgabe. – Stuttgart : Reclam. – Bd. 1 – 3.
Bd. 1. Märchen : Nr. 1 – 86. – 1984. – 419 S.
Bd. 2. Märchen : Nr. 87 – 200. Kinderlegenden : Nr. 1 – 10. Anhang : Nr. 1 – 28. – 1984. – 528 S.
Bd. 3. Originalanmerkungen. Herkunftsnachweise. Nachwort. – 1984. – 624 S.
Standort: Märchen Grim (Online-Katalogdaten, auch zur Neuauflage von 2020 hier)
Grimms Märchen / Jacob u. Wilhelm Grimm. Hrsg. von Günter Jürgensmeier. Mit Bildern von Charlotte Dematons. – Düsseldorf : Sauerländer, 2007. – 559 S. : zahlr. Ill. (farb.)
Standort: Märchen Grim (Online-Katalogdaten hier)
Hilda