Mittendrin Mittwoch #45

Lange Zeit hatte ich alle einschließlich meiner selbst davon überzeugt, dass ich Chirurgin werden würde wie meine beste Freundin in Québec. Sie hatte mich einmal in die Schulbücherei mitgenommen, um mir Bilder von ihrem Zukunftstraum zu zeigen. Da ich noch nicht in der Lage war zu träumen, tat ich es ihr nach, eignete mir ihren Traum an und verewigte ihn sogar im Abibuch. Ich musste meine Entscheidung nicht erklären, denn sie gefiel allen und erfüllte alle Erwartungen. (S. 83)

Kim Thúy „Die vielen Namen der Liebe“

 

Thúy , Kim : Die vielen Namen der Liebe / aus dem Französischen von Andrea Alvermann u. Brigitte Große. – München : Kunstmann,  2017. – 138 Seiten.
Originaltitel: Vi
(noch nicht im Bestand der Bibliothek)

 

 

 

Ich wollte einen kleinen, schnell zu lesenden, aber nicht anspruchslosen Roman für Zwischendurch, da schien mir mein Spontankauf genau richtig. Von der kanadischen Autorin hatte ich bereits gehört, aber noch nichts gelesen. Bekannt wurde Kim Thúy 2010 mit „Der Klang der Fremde“, dann „Der Geschmack der Sehnsucht“.

Der Titel “Die vielen Namen der Liebe“ ließ mich fast einen eher kitschigen Roman erwarten. Tatsächlich ist er scheinbar leicht geschrieben, erzählt aber sehr dicht und vielschichtig eine Familiengeschichte über mehrere Generationen, eine Flucht- und Exilgeschichte von vietnamesischen Boat People und die Suche der jungen Generation nach einer eigenen Identität zwischen dem Anspruch von Familie, Tradition und den Möglichkeiten, die die neue fremde Heimat bietet, zwischen Anpassung und dem Wunsch nach Individualität. Erzählt wird aus der Perspektive einer jungen Frau, der jüngsten Tochter Vi, die bei der Flucht erst acht Jahre alt war. Die Erzählung beginnt aber schon bei den Großeltern, die im damaligen Indochina als privilegierte „Eingeborene“ zu Ansehen und Besitz gekommen waren. Die Ich-Erzählerin berichtet anfangs kaum aus eigener Erinnerung: die Liebes- und Lebensgeschichten der Großeltern und der Eltern sowie der besten Freundin der Mutter bis hin zum Sieg des Vietkong, zur Flucht über das Wasser, zum Warten im überfüllten Flüchtlingslager in Malaysia und der Ankunft im asylgebenden Kanada. Das alleine würde schon Stoff für dickleibige Romane hergeben, doch die Autorin benötigt bis hierhin gerade einmal knapp 50 großzügig gedruckte Seiten. Die restlichen zwei Drittel des Romans widmen sich jetzt der jungen, im Westen aufwachsenden und ihren Weg suchenden Generation.

Ich bin gespannt, wie Vi sich von ihrer Familie emanzipiert. Vor allem aber, wie sich der Titel des Romans noch weiter rechtfertigt: Denn ganz unauffällig, mehr zwischen den Zeilen als in großen Worten, sind die verschiedenen Formen der Liebe das eigentliche Leitmotiv der Erzählung.

HilDa

Elizzy von read books and fall in love hat sich die Blogaktion ausgedacht. Der „Mittendrin Mittwoch“ besteht aus immer neuen Zeilen aus Büchern, in denen wir aktuell wortwörtlich mittendrin stecken.

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