Inzwischen hatte Arkadi Dimas Pistole aufgehoben. Arkadi war kein Scharfschütze; sein Vater, der General, hatte eine tiefe Abneigung gegen Waffen in ihm hinterlassen, aber er war damit aufgewachsen, sie zu zerlegen, zu reinigen und ganz allgemein zu pflegen.
Eine Neun-Millimeter-Patrone klemmte senkrecht wie ein Kamin im Verschluss der Glock. Arkadi zog sie heraus, lud die Pistole durch, und weil er ein schlechter Schütze war und der Unbekannte nur ein Schatten vor dem dunklen Kofferraumdeckel, ging er geradewegs auf den Wagen zu. In der Hast verfehlte die Gestalt im Kofferraum ihn mit den letzten Patronen im Magazin, …(Die goldene Meile / von Martin Cruz Smith. Seite 147f)

Politthriller „Die goldene Meile“ von Martin Cruz Smith
So ist Arkadi Renko: kompromisslos, wenn es nur um sein eigenes Leben geht – es ist ihm egal, naja fast. Alle um ihn herum mögen korrupt sein, seine Vorgesetzten stellen ihn kalt, mal wieder, er wird suspendiert, man legt ihm nahe, doch endlich seine Kündigung einzureichen, Kriminelle belügen, bedrohen, schlagen ihn, Unterweltbosse oder wer auch immer wollen ihn töten.
Das ist natürlich genretypisch bei einem Politthriller. Aber den russischen Ermittler Arkadi Renko vergisst man nicht.
„Gorki Park“ war der erste Renko-Thriller (1981), da war er noch Polizist bei der sowjetrussischen Miliz. In „Die goldene Meile“, Originaltitel „Three Stations“ (2010) hat Putin die Macht im Kreml, aber eigentlich scheint sich in der russischen Gesellschaft nicht gar so viel geändert zu haben. Da gibt es die ewigen Verlierer, die Chancenlosen, Ausgenutzten, Gequälten, aus deren Reihen die Opfer, aber auch die brutalen Vollstrecker rekrutiert werden. Und da sind die Schönen und Reichen, die an den Hebeln der Macht sitzen und die beliebig bestechen, erpressen, manipulieren können, denen keine Grenzen zu setzen sind, die fast machen können – oder machen lassen können – was immer sie wollen. Sie selbst glauben das jedenfalls.
Da kommen einige Klischees zusammen, aber Martin Cruz Smith zeichnet seine Charaktere sehr genau und lebendig – wie schon gesagt, den melancholischen Ermittler Renko vergisst man nicht. Auch die junge Ausreißerin, die zwischen den drei großen Moskauer Bahnhöfen herumirrt und nach ihrem entführten Baby sucht, berührt sehr. Sie misstraut jedem und hat auch allen Grund dazu. Niemand will ihr glauben, außer Schenja, das Schachgenie, der wäre zu gerne ihr Beschützer und möchte seinen Freund Renko zu Hilfe holen. Aber die gerade mal 15jährige Maja stößt auch ihn von sich. Allein hat sie jedoch gar keine Chance.
Renko versucht derweil seinem alkoholkranken Kollegen zu helfen: eine Tote wurde in einem Bauwagen gefunden. Der Fall soll schnell zu den Akten, eine Prostituierte, die an einer Überdosis starb. Doch Renko glaubt, dass Leiche und Tatort bewusst so arrangiert wurden. Er will die wahre Identität der Toten herausbekommen und erkennt Indizien für einen Mord. Die Ermittlungen gegen alle Widerstände führen ihn in die Welt der Superreichen und Oligarchen – und in die chaotische Subkultur der drei Bahnhöfe.
Die erste Hälfte des Thrillers bietet viel Milieu, viel Leid, viel Charakterstudie. Das zeichnet den Autor aus. Doch die beiden Kriminalfälle, die sich offenbar aufeinander zu bewegen, wollten mich anfangs nicht so recht packen. Erst in der Mitte des Buches überschlägt sich alles. Es wird klar, warum Maja niemandem vertrauen will, obwohl doch bei der Suche nach einem Säugling jede Minute zählt. Renko gerät in eine wüste Ballerei (das Zitat oben ist mitten aus dieser Szene), und im Hintergrund scheint sich eine große Verschwörung zusammen zu brauen.

Zwei weitere empfehlenswerte Thriller mit dem Ermittler Arkadi Renko
“Gorki Park“ ist ein Thriller-Klassiker, für Freunde des Genres eigentlich ein Muss (übrigens erfolgreich verfilmt und sehr gut besetzt mit William Hurt als Renko und Lee Marvin als skrupelloser Gegenspieler). Vom zweiten Renko-Fall „Polar Star“ war ich dagegen enttäuscht. Vor einigen Jahren las ich eher zufällig „Treue Genossen“, war sehr gefesselt (vor allem der Schauplatz ist auf schaurig-schöne Art faszinierend, aber ich will hier nichts weiter verraten) und habe deshalb sofort zugegriffen, als ich „Die goldene Meile“ im Schnäppchenregal einer Buchhandlung sah. Jedes Buch funktioniert übrigens für sich, man muss wirklich nicht alle Renko-Romane lesen (bisher gibt es offenbar acht).
Wahrscheinlich wird in der zweiten Hälfte des Thrillers die Action noch mehr in den Vordergrund rücken. In einer Kritik stand, Cruz Smith lasse die unterschiedlichen Milieus „wie zwei D-Züge aufeinander zu fahren und sammelt die Scherben auf, die nach dem Crash übrigbleiben“ (Oliver Wieters: Chaos als Normalzustand); ein sehr treffendes Bild.
Ich habe gerade das Ende des Kapitels erreicht, in dem Arkadi Renko zur Pistole greift und einfach dem Killer und seinen Kugeln entgegengeht (siehe Zitat oben):
Arkadi sagte nichts, aber er dachte daran, wie sein Vater es in einem militärischen Lehrbuch formuliert hatte: „Im Felde sollte ein Offizier nur im äußersten Notfall rennen, und niemals auf dem Rückzug. Ein Offizier, der fähig ist, sich unter Beschuss ruhig und zuversichtlich zu bewegen, statt von einer Deckung zur anderen zu springen, ist so viel wert wie zehn brillante Taktiker.“
Arkadi hatte den Ehrgeiz zu sterben, bevor er wurde wie sein Vater.(Die goldene Meile / von Martin Cruz Smith. Seite 150)
Oha. Bei solchem „Ehrgeiz“ kann ja noch so einiges geschehen.
Hier unsere Katalogdaten zum Buch.
HilDa
Elizzy von read books and fall in love hat sich für alle, die teilnehmen mögen, folgende Blogaktion ausgedacht: der „Mittendrin Mittwoch“. Er besteht aus immer neuen Zeilen aus Büchern, in denen wir aktuell wortwörtlich mittendrin stecken.