Literaturtage: Esther Kinsky „Hain. Ein Geländeroman“

Es ist kaum zu fassen, aber am Freitag ist bereits die letzte von insgesamt zwölf Autorenlesungen der Literaturtage Bielefeld 2018. Zum Abschluss gehen wir mit der Autorin, Lyrikerin und Übersetzerin Esther Kinsky auf Reisen – Italienische Reisen besonderer Art.

„Jeden Morgen wache ich in einer Fremde auf.“

Buch mit Programmheft der Literaturtage 2018

Esther Kinsky „Hain. Ein Geländeroman“

Esther Kinsky schreibt in ihrem Buch „Hain. Ein Geländeroman“ über den Verlust eines geliebten Menschen. Es ist das stille Buch einer Liebenden, einer Zurückgelassenen.

Die Ich-Erzählerin reist in ein Italien, das wir so vielleicht noch nie gesehen haben. Grau- und Brauntöne dominieren. Es sind zumeist kleine, entlegene Ortschaften, die sie besucht, und Ihre Wahrnehmung des Geländes spiegelt ihr „schweres Herz“. Immer wieder sucht sie Friedhöfe auf, beobachtet Menschen, beschreibt die Natur, das Licht, erinnert sich an M., den verstorbenen Partner und auch an den Vater ihrer Kindheit, der mit der Familie oft Italien bereiste, schafft Verbindungen zu Künstlern wie Pasolini und Bassani. Ihre Sprache ist dabei frei von Sentimentalität, sucht keine Effekte, ist poetisch und spröde zugleich.

„Mein Thema ist: Wie filtert und beeinflusst eine Verlusterfahrung den Blick? Man sieht die Welt durch einen anderen Filter. Das finde ich einen wichtigen Vorgang. Es geht eigentlich in dem ganzen Buch ums Sehen und wie man das Sehen in Sprache umsetzt. Das ist etwas, was mich überhaupt immer beschäftigt: Was passiert zwischen dem Sehen, Erkennen und dem Benennen? Ein trauernder Mensch sieht die Welt einfach anders, liest sie einfach anders.“ (Esther Kinsky)

Esther Kinsky, die vor allem auch als Übersetzerin aus dem Polnischen und Russischen bekannt ist, hat für diesen Roman den Preis der Leipziger Buchmesse 2018 erhalten.

Freitag, 2. November, 19 Uhr
Stadtbibliothek, Neumarkt 1
Einlass: 18.30 Uhr, Beginn: 19.00 Uhr
Moderation: Angelika Teller
Musikalische Begleitung: Henning Rice am Flügel und Ismail Özgentürk, Saxophon
Eintrittspreis: 8,– €, ermäßigt 6,– €, Dauerkarte 50,– €

Ausleihhinweise zu Esther Kinskys Werken einschließlich einiger ihrer Übersetzungsarbeiten findet Ihr hier. Zum gesamten Programm der Literaturtage geht es hier.

Literaturtage: Jakob Hein „Die Orient-Mission des Leutnant Stern

Buchcover

Jakob Hein: Die Orient-Mission des Leutnant Stern

Diese Geschichte ist wahr, obwohl sie kaum zu glauben ist. Während des ersten Weltkrieges schmiedet der Orientalist und Abenteurer Max Freiherr von Oppenheim unter der Ägide der deutschen Militärführung einen aberwitzigen Plan. Um die Kolonialmächte England und Frankreich zu schwächen, soll der türkische Sultan, milde gestimmt durch die feierliche Übergabe von 14 muslimischen Kriegsgefangenen, animiert werden, den Dschihad auszurufen. Diese „Orient-Mission“ wird dem jungen, tollkühnen Leutnant Stern übertragen. Er soll die Gefangenen heimlich im Balkanexpress von Berlin nach Konstantinopel bringen. Damit dieser bizarre Plan gelingt, verwandelt er die Häftlinge in eine illustre Zirkustruppe.

„Er deklarierte die Orientalen als Reit- und Trapezkünstler. Auf diese Weise konnte es den Grenzbeamten nicht einfallen, spontan von ihnen Kunststücke als Arbeitsnachweis einzufordern. Er selbst würde den Zirkusdirektor geben…“

Immer wieder wechselt der Autor die Erzählperspektiven von Stern über den Gefangenen Tassaout bis zum mitreisenden Gesandten Schabinger Freiherr von Schowingen.

Hein erzählt diese absurde, historisch belegte Geschichte mit viel Feingefühl, Witz und Humor und schafft es dabei, Bezüge zur Gegenwart herzustellen.

Er zeigt die verheerende Wirkung der Konstruktion von Feindschaft, ohne sich selbst darauf einzulassen. Dem Einzelnen Menschen, jedem, bleibt er freundlich gesinnt.
(Martin Hatzius, Neues Deutschland)

Jakob Hein, der auch als Psychiater arbeitet, hat sich in diesem Roman erstmals einem historischen Stoff zugewandt. Von ihm liegen bereits 14 Bücher vor, darunter „Herr Jensen steigt aus“, „Wurst und Wahn“ sowie „Kaltes Wasser“.

Montag, 29. Oktober, 19 Uhr
Stadtbibliothek, Neumarkt 1
Einlass: 18.30 Uhr, Beginn: 19.00 Uhr
Moderation: Prof. Dr. Ludwig Huber
Musikalische Begleitung: Valentin Katter (Trompete / Flügelhorn), Alexander Lipan (Oud / Gitarre)
Eintrittspreis: 8,– €, ermäßigt 6,– €, Dauerkarte 50,– €

Ausleihhinweise zu Jakob Heins Werken findet Ihr hier. Zum gesamten Programm der Literaturtage geht es hier.

Literaturtage: Sigrid Damm „Im Kreis treibt die Zeit“

Wir kennen Sigrid Damm als akribische Biographin und Chronistin über Personen aus dem Umfeld der Weimarer Klassik. Erinnert sei an den Bestseller „Christiane und Goethe“ von 1998 und das Buch „Goethes letzte Reise“ von 2007. Mit beiden Büchern war die Autorin zu Gast bei den „Bielefelder Literaturtagen“. Diesmal ist sie mit einem autobiographischen Werk vertreten.

In ihrem neuen Buch wendet sie sich Ihrem Vater zu, der neunzigjährig im thüringischen Gotha starb. Das Verhältnis zu ihm war seit der Kindheit zerrüttet, hatte der von ihr verehrte Großvater doch das Bild des Vaters vergiftet und die Mutter es nie korrigiert. So lehnt die Autorin jahrzehntelang sowohl den Vater als auch die Vaterstadt Gotha ab. Eine vorsichtige Annäherung wird erst möglich nach dem Tod der Mutter, in seinen zwei letzten Lebensjahren. Zwanzig Jahre danach schreibt Sigrid Damm dieses Doppelporträt über den Vater Willi Och und ihre Geburtsstadt.

Im Nachlass findet die Autorin Papiere und alte Fotos, verschränkt diese Fragmente und ihre eigenen eingeschlossen Erinnerungen mit den Zeitläuften und der Geschichte Gothas. Daraus ist ein sensibles, zeitgeschichtliches Panorama entstanden, das wieder einmal vor Augen führt, wie eng das persönliche Schicksal mit den politischen Verhältnissen verknüpft ist.

„Wärme spricht aus dem Buch. Es macht etwas mit seinen Lesern, es bringt den eigenen festen Platz ins Wanken.“ (Cornelia Geißler, Frankfurter Rundschau)

Sigrid Damm wurde mit zahlreichen Preisen geehrt und ist seit 2010 Ehrenbürgerin der Stadt Gotha.

Freitag, 26. Oktober, 19 Uhr
Stadtbibliothek, Neumarkt 1
Einlass: 18.30 Uhr, Beginn: 19.00 Uhr
Moderation: Angelika Teller
Musikalische Begleitung: ZATIE – Mylene Kroon (Vocals), Kevin Hemkemeier (Bass)
Eintrittspreis: 8,– €, ermäßigt 6,– €, Dauerkarte 50,– €

Ausleihhinweise zu Sigrid Damms Werken findet Ihr hier. Zum gesamten Programm der Literaturtage geht es hier.

Mittendrin Mittwoch #73

Das Leder fühlte sich gut an zwischen den Fingern. Sprotte sah, wie Snegla die Ohren spitzte, hörte, wie sie die Hufe im feuchten Sand aufsetzte – und wünschte sich wieder einmal, dass man Augenblicke wie diesen aufbewahren könnte, in einem Marmeladenglas oder einer Keksdose. Um ab und zu davon zu kosten, an anderen, langweilig grauen Tagen, an Tagen, die nicht nach feuchtem Pferdefell rochen. Für so viel Glück braucht man aber ein großes Glas, dachte Sprotte, während sie hinter Trude her ritt.

Die Wilden Hühner und das Glück der Erde von Cornelia Funke, Seite 165

Die Wilden Hühner – das sind Sprotte, Frieda, Trude, Wilma und Melanie. Sie sind eine Bande und haben zusammen schon so einiges erlebt. Rettungsaktionen für echte Hühner, Gespensterjagd auf Klassenfahrt, Ferien auf einem Reiterhof, immer wieder neue Racheaktionen gegen die Pygmäen, vier Jungs, die in die selbe Klasse wie die Wilden Hühner gehen (und wenn es drauf ankommt, eigentlich ganz in Ordnung sind). Ich lese momentan im vierten Buch Die Wilden Hühner und das Glück der Erde, in dem die Hühner Ferien auf einem Reiterhof machen (auf dem sich die Pygmäen natürlich auch irgendwann blicken lassen).

Als Kind habe ich Die Wilden Hühner-Bücher von Cornelia Funke immer wieder gerne gelesen. Als ich letztens mein Bücherregal etwas umgeräumt habe und die Bücher in der Hand hatte, dachte ich mir, dass ich da eigentlich auch mal wieder reinschauen könnte. Und es hat richtig viel Spaß gemacht, nach so langer Zeit mal wieder in die Geschichte einzutauchen. Bücher aus der Kindheit zu lesen, finde ich auch unter dem Aspekt spannend, dass da so viele Erinnerungen dran hängen. Vom ersten Buch hatte ich zum Beispiel auch das Hörbuch, das von Cornelia Funke selber gesprochen wird und das ich früher ebenfalls sehr oft gehört habe. So hatte ich bei bestimmten Abschnitten immer wieder Cornelia Funkes Stimme im Kopf (und habe jetzt eigentlich Lust ins Hörbuch reinzuhören).
Plötzlich kam mir dann auch wieder der Soundtrack zu den Verfilmungen der Bücher in den Sinn (auch immer noch wunderschön), die damals genau passend rauskamen, als ich die Bücher selber noch gelesen habe.
In den Büchern werden viele lebensnahe Themen verarbeitet, von geschiedenen Eltern über abwesende Väter, arbeitslose Eltern, Probleme in der Schule, Freundschaft, erste Liebe bis zu unnahbaren, bevormundenden Großmüttern. Durch diese Nähe zum echten Leben kann sich da auch jedes Kind in den Büchern wieder finden. Die Wilden Hühner unternehmen eben Sachen, die auch jedes normale Kind unternehmen könnte und jagen keine Verbrecher oder erleben sonst welche Abenteuer, die in echt nie jemandem passieren. Sie treffen sich zum Tee trinken und Waffeln backen, kümmern sich um echte Hühner, spielen Theater, legen Gemüsebeete an, schreiben sich in der Schule Zettelchen in selbst erdachter Geheimsprache.
Was mir außerdem grundsätzlich an allen Büchern von Cornelia Funke gefällt, ist, dass sie diese meist selbst illustriert. Das macht ihre Bücher auch optisch zu etwas ganz Besonderem. Das ist vielleicht Geschmackssache, aber ich mag ihren Zeichenstil richtig gerne.

Hier nochmal die Bücher der Reihe:
Die Wilden Hühner
Die Wilden Hühner auf Klassenfahrt
Die Wilden Hühner – Fuchsalarm
Die Wilden Hühner und das Glück der Erde
Die Wilden Hühner und die Liebe
Die Wilden Hühner und das Leben (Das ist allerdings die Adaption des dritten Wilde Hühner Films, der zwar teilweise auf den Büchern beruht, aber eine eigene Geschichte aufweist, die nach Die Wilden Hühner und die Liebe spielt und auch nicht von Cornelia Funke adaptiert wurde. Zu dem Buch kann ich nicht viel sagen, da ich das nie gelesen habe.)

Ausleihhinweise zu allem, was wir zu den Wilden Hühnern in der Bibliothek haben findet ihr hier.

lga

Elizzy von read books and fall in love hat sich für alle, die teilnehmen mögen, folgende Blogaktion ausgedacht: der „Mittendrin Mittwoch“. Er besteht aus immer neuen Zeilen aus Büchern, in denen wir aktuell wortwörtlich mittendrin stecken.

Literaturtage: Klaus Cäsar Zehrer „Das Genie“

Buch lugt aus dem Regal der Stadtbibliothek hervor

Klaus Cäsar Zehrer: Das Genie

Darf man heute noch so erzählen? „Das Genie“ ist ein biographischer Roman über das Leben des als Exzentriker geltenden William James Sidis (1898 – 1944). Es ist zugleich die Geschichte einer sich energisch behauptenden und nach oben durchboxenden Einwanderergeneration in den USA in Gestalt des aus der Ukraine kommenden Boris Sidis, der 1886 in New York inmitten eines vielsprachigen, multikulturellen Menschenwirrwarrs eintrifft. Eine angeborene Intelligenz, Zielstrebigkeit und Ehrgeiz ebnen ihm den Weg zu akademischer Bildung, Ansehen und Besitz. An seinem Sohn William will er schlussendlich demonstrieren, dass jedes Kind zum Genie werden kann. Vorausgesetzt es erhält die richtige Förderung. Doch die Dinge entwickeln sich meist anders als geplant. Zwar bricht der kleine William alle Rekorde, macht mit acht Jahren seinen High-School-Abschluss, ist der „Wunderjunge von Harvard“, doch als Erwachsener hat er nach all‘ dem Drill, der Fremdbestimmtheit und den, allerdings selbstauferlegten, 154 Lebensregeln nur noch den Wunsch, sein Leben selbst in die Hand nehmen und gestalten zu können. Eine Katastrophe scheint absehbar.

„Im Ernst: Es gibt tatsächlich eine Methode, die eigens dazu entwickelt wurde, ein Kind in ein Genie zu verwandeln.“ [aus dem Roman, S.7]

Klaus Cäsar Zehrer, Jahrgang 1969, nimmt wegen der zusammen mit Robert Gernhart herausgegeben Anthologie „Hell und schnell. 555 komische Gedichte aus 5 Jahrhunderten“ (2005) einen festen Platz im Herzen seiner Leserschaft ein. Darüber hinaus hat er sich als promovierter Kulturwissenschaftler intensiv mit der Neuen Frankfurter Schule und deren Satirekonzept beschäftigt. „Das Genie“ ist sein erster Roman.

Dienstag, 23. Oktober, 19 Uhr
Stadtbibliothek, Neumarkt 1
Einlass: 18.30 Uhr, Beginn: 19.00 Uhr
Moderation: Harald Pilzer
Musikalische Begleitung: Thomas Schweitzer, Saxophon
Eintrittspreis: 8,– €, ermäßigt 6,– €, Dauerkarte 50,– €

Einen persönlichen Eindruck von der Lektüre hatte die Kollegin lga bereits im MittendrinMittwoch #71 beschrieben.

Ausleihhinweise zu Klaus Cäsar Zehrers „Das Genie“ findet ihr hier. Zum gesamten Programm der Literaturtage geht es hier.

Literaturtage: Michael Kumpfmüller „Tage mit Ora“

Buch „Tage mit Ora“ und Programmheft zu den Literaturtagen 2018

„Tage mit Ora“ von Michael Kumpfmüller

Eine Frau und ein Mann beschließen, gemeinsam zu verreisen. Was ist ungewohnlich daran? Die beiden kennen sich kaum. Das Einzige, was sie wissen: Sie fühlen sich zueinander hingezogen. Eigentlich kann es mit ihnen nichts werden, aber vielleicht ja doch. Sie begegnen sich auf einer Hochzeitsparty – und bleiben aneinander hangen: die Kunstschneiderin Ora und der Erzähler des Romans, der über sich sagt, das einzige was fur ihn spräche, wäre seine schone Seele. Beide sind Experten in Liebeskatastrophen und allenfalls gemäßigt optimistisch, stehen in der Mitte des Lebens. Aber sie spüren, dieser neue Mensch interessiert mich. Da ist etwas, das ich ausprobieren will – mit allen Konsequenzen. „Tage mit Ora“ erzahlt davon, wie die beiden sich auf den Weg machen, so die Verlagsankündigung. Zwei Wochen USA, Westküste, mit dem Mietwagen. Die Stationen ihrer Reise: Orte aus Oras Lieblingssong „June On The West Coast “ von Bright Eyes. Mehr Planung gibt es nicht. Mit wunderbarer Leichtigkeit und zärtlichem Humor führt Michael Kumpfmüller vor, was passiert, wenn zwei Stadtneurotiker Spontanurlaub machen. Und sich in fremder Umgebung Schritt fur Schritt aufeinander einlassen. Ihr Road Trip wird zu einer Woody-Allen-artigen Komödie des sich Findens und Verfehlens. Denn der Erzähler weiß, dass Katastrophen, die hinter einem liegen, jederzeit wunderbar als nicht enden wollende Komödie erzählt werden können.

„I spent a week drinking the sunlight of Winnetka, California where they understand the weight of human hearts.“ 
~Songtext „June on the West Coast“ von Bright Eyes / Conor Oberst, 1998~

Michael Kumpfmüller, geboren 1961 in München, lebt als freier Autor in Berlin, ausgezeichnet mit dem Döblin-Preis. Der Kafkas letztes Lebensjahr thematisierende Roman „Die Herrlichkeit des Lebens“ wurde zum Bestseller, in 25 Sprachen übersetzt und von der literarischen Kritik hochgelobt.

Montag, 22. Oktober, 19 Uhr
Stadtbibliothek, Neumarkt 1
Einlass: 18.30 Uhr, Beginn: 19.00 Uhr
Moderation: Klaus-Georg Loest
Musikalische Begleitung:  Anna Suzuki, Gesang und Flügel
Eintrittspreis: 8,– €, ermäßigt 6,– €, Dauerkarte 50,– €

Einen persönlichen Eindruck von der Lektüre hatte die Kollegin HilDa bereits vor zwei Wochen im MittendrinMittwoch #70 beschrieben.

Ein ausführliches Interview mit Michael Kumpfmüller kann man im Podcast des WDR 3 nachhören, ein weiteres beim Deutschlandfunk Kultur .

Ausleihhinweise zu „Tage mit Ora“ und anderen Romanen von Michael Kumpfmüller findet ihr hier. Zum gesamten Programm der Literaturtage geht es hier.

Mittendrin Mittwoch #72

Und Froster sagt: Mann, Vandam, da hast du was Feines erkämpft, damals auf der Nationalstraße.

Wäre es nicht Froster, sondern jemand anders, würde der schon den Boden küssen.

Und Froster fährt fort: So hast du dir das damals nicht träumen lassen, was? Dass es ein so beschissenes Ende nimmt.

Und einer fragt: Was meinst du mit Nationalstraße?

Froster sagt: Dort hat Vandam es doch losgetreten.

Und ein anderer sagt: Hä? Wo?

Und Froster sagt: Unten in der Stadt sag ich, auf der Nationalstraße. Damals im November 1989.

(Seite 62)

„Nationalstraße“ von Jaroslav Rudis

Da schwadroniert ein Ich-Erzähler, der so ziemlich alles darstellt, was mich abstößt: er ist ein Schläger, ein gescheiterter Macho, ein gewalttätiger Ex-Polizist mit rechtsradikaler Einstellung. Und der Autor lässt diesen furchtbaren Menschen reden: In einem großen Monolog erklärt er seinem Gegenüber (noch ist nicht klar, wer das ist), wie und wo man sich seine Gegner für eine Schlägerei aussucht, wie man einen Kampf überlebt, gewinnt und zum König der örtlichen Kneipe wird; er erzählt so nebenbei auch von einer Kindheit im Plattenbau, dem Selbstmord des Vaters, dem Milieu der Gescheiterten und Abgehängten.

Der wie im Fieberwahn gesprochene Monolog mit seinen vielen Wiederholungen nervt manchmal, aber ich kann mich kaum entziehen: dieser  direkte Einblick in den Kopf, in das Denken und Fühlen eines so fremden, abstoßenden Menschen. Aber eben ein Mensch. Jaroslav Rudis zeichnet ihn grob, aber nicht in krassem Schwarz-Weiß-Kontrast, sondern als einen Menschen, wie wir ihn in irgendeiner Kneipe treffen könnten und der uns plötzlich seine Fassade öffnet. Die Wiederholungen geben der Rede einen Rhythmus, ja fast etwas poetisch-episches. Da überrascht es mich nicht, dass ich gerade in einer Rezension lese, dass Jaroslav Rudis auch als Musiker und für das Theater arbeitet. Als Graphic-Novel-Autor kannte ich ihn bereits.

Durch diese Rezension (Lerke von Saalfeld beim Deutschlandfunk) weiß ich jetzt allerdings auch, wie das Buch weitergeht. Ich bin sehr gespannt auf die Autorenlesung im Rahmen unserer Literaturtage morgen. Wie trägt man so einen provozierenden Text vor? Was hat den Autor inspiriert?

Erlesenes – mittendrin und mittendabei: Wir zeigen am Mittendrin-Mittwoch die Lektüre, in der wir gerade mittendrin stecken; die Literatur führt uns mitten in ein unbekanntes Leben und in die Gedankenwelt eines Menschen, mit dem man sich im realen Leben vielleicht nicht gerade unterhalten möchte; die Literaturtage lassen uns im Gespräch mit dem Autoren teilhaben am Schreibprozess.
Mitlesen könnt Ihr immer: unsere Katalogdaten zu den Werken von Jaroslav Rudis hier. Bei den Literaturtagen könnt Ihr auch mitreden, z. B. morgen mit dem Autor von „Nationalstraße“.

Donnerstag, 18. Oktober, 19 Uhr
Stadtbibliothek, Neumarkt 1
Einlass: 18:30 Uhr, Beginn 19 Uhr
Moderation: Dr. Maria Kublitz-Kramer, Literarische Gesellschaft
Musikalische Begleitung: Three Times Blues: Milan Böse, Valentin Katter, Uwe Martin
Eintrittspreis: 8 €, ermäßigt 6 €, Dauerkarte 50 €.

Das vollständige Programm der Literaturtage hier.

HilDa

Elizzy von read books and fall in love hat sich für alle, die teilnehmen mögen, folgende Blogaktion ausgedacht: der „Mittendrin Mittwoch“. Er besteht aus immer neuen Zeilen aus Büchern, in denen wir aktuell wortwörtlich mittendrin stecken.

Literaturtage: Anja Kampmann „Wie hoch die Wasser steigen“

Wenzel arbeitet auf Bohrinseln, bodenlos über den Wellen, im Nirgendwo auf dem Globus. Im Dorf seiner Vorfahren war er mit Milena verheiratet, konnte sich finanziell dort aber nicht über Wasser halten. Sie ist ihm fremd geworden, genauso wie es seine Jugendfreunde und sein ehemaliges Zuhause sind. Einziger Halt ist die immer intensiver werdende Freundschaft zu seinem Kollegen Matyas. Als ein nächtlicher Sturm vor der nordafrikanischen Küste Matyas verschluckt hat, macht sich Wenzel auf den Weg – eigentlich nur um dessen Familie in Ungarn die Hinterlassenschaften zu bringen. Doch dann steigt er aus. Erst aus dem Taxi, das ihn zur Bohrinsel zurückbringen sollte, dann aus dem Arbeitsleben. Uber Malta und Italien irrt er nach Norden, fährt im geliehenen alten Fiat in ein erloschenes Ruhrgebiet, in das sein Vater auf der Suche nach Bergmannsarbeit gegangen war. Im Gepäck hat er eine Brieftaube, die geradlinig ihren Weg zurücknehmen wird. Sie fliegt zurück zu dem am Alpenrand lebenden Alois, dem Freund seines Vaters, seiner einzigen noch vitalen Verbindung zur Vergangenheit.

„Er dachte, dass er etwas in der Ferne gesucht hatte, aber dass dort nichts war.“
~Wenzel~

Anja Kampmanns aus der Büchermenge dieses Jahres herausragender Debütroman erzählt in dichter, poetischer Sprache von der sonnendurchglühten Hafenstadt Tanger, der staubigen ungarische Puszta, dem verrusten Ruhrgebiet von Wenzels Kindheit, der Rückkehr aus der Fremde, vom Versuch, aus einer harten Arbeitswelt zurückzufinden ins eigene Leben. Die bisher als Lyrikerin bekannte 35-jährige Hamburgerin schreibt ohne Schnörkel, ohne Psychologisierung, erfindet höchst intensive Bilder und wurde damit in diesem Jahr für den Preis der Leipziger Buchmesse nominiert.

Hier ist eine Autorin zu entdecken„, so Tobias Lehmkuhl in der ZEIT (Rezension einschließlich fast 7 Minuten Video-Lesung). Na dann:

Mittwoch, 17. Oktober, 19 Uhr
Stadtbibliothek, Neumarkt 1
Einlass: 18.30 Uhr, Beginn: 19.00 Uhr
Moderation: Klaus-Georg Loest
Musikalische Begleitung: Matthias Kämper, Flügel
Eintrittspreis: 8,– €, ermäßigt 6,– €, Dauerkarte 50,– €

Hier geht es zu Anja Kampmanns Werken in unserem Katalog und hier gelangt ihr zum gesamten Programm der Literaturtage.

Literaturtage: Michael Kleeberg „Der Idiot des 21. Jahrhunderts“

Wenn ein Roman den Untertitel Ein Divan trägt, kann er seine Verwandten nicht verleugnen. Alles läge dem Autor ferner, als dies zu tun. Die Verbindung zu Goethes West-östlichem Divan und zu einer zweiten Quelle der Inspiration, dem Märchen von Leyla und Madschnun des persischen Dichters Nizami. Michael Kleeberg gilt als realistischer Schreiber und so mögen zwar manche Passagen seines Romans märchenhaft klingen und von blumiger Sprache leben, aber in den 12 Kapiteln, oder besser „Büchern“, die Titel tragen wie „Buch der drei Lieben“ oder „Buch des westlichen Exils“ oder „Buch der Utopie“, werden wir auf den Boden der Tatsachen gestellt.

Buch mit Programmheft der Literaturtage

Michael Kleeberg „Der Idiot des 21. Jahrhunderts“

Es geht um die großen Themen der Welt. Es geht um eine Welt der Globalisierung, der Fluchten, der Menschenströme, der Schicksale zwischen Orient und Okzident, der Strukturlogik internationaler Konfrontationen, die hier in Einzelgeschichten und Gesprächen eines alt gewordenen Freundeskreises – man kennt sich seit Jahren, nimmt aneinander Anteil – erörtert werden. Man denkt unweigerlich an 1968 und die Folgen, vor allem daran, wie sich doch alles anders entwickelt hat, als man es sich vorgestellt und erhofft oder erträumt hat.

Michael Kleeberg, Jahrgang 1959, verarbeitet in diesem Roman seine intensive Beschäftigung mit dem politischen „Nahen Osten“ und der Kultur des Orients. Er nimmt die aktuellen Fragen einer Einwanderungsgesellschaft auf, die Fragen von Vertrautheit und Fremdheit und singt das Lob der Gastfreundschaft. Zuletzt war er in Bielefeld mit seinem Roman „Vaterjahre“ aus dem Jahre 2014 zu Gast.

Michael Kleeberg ist ein unendlich begabter, unverschämt maliziöser Schriftsteller, der souverän über alle Register der großen Romanorgel verfügt. (Ijoma Mangold, Die ZEIT)

Ein aufschlussreiches Interview mit dem Autor über seinen neuen Roman findet Ihr beim Deutschlandfunk Kultur, eine sehr ausführliche Besprechung im Radio-Feature von Maike Albath im Deutschlandfunk.

Montag, 15. Oktober, 19 Uhr
Stadtbibliothek, Neumarkt 1
Einlass: 18.30 Uhr, Beginn: 19.00 Uhr
Moderation: Harald Pilzer
Musikalische Begleitung: Henning Rice, Flügel und Ismail Özgentürk, Saxophon
Eintrittspreis: 8,– €, ermäßigt 6,– €, Dauerkarte 50,– €

Hier findet Ihr die Katalogdaten zu den Büchern von und über Michael Kleeberg einschließlich einiger Übersetzungsarbeiten von ihm; und hier das gesamte Programm der Literaturtage.

 

Literaturtage: Gert Loschütz „Ein schönes Paar“

Es geht in dem Roman, der bisweilen autobiographisch anmutet, um die Geschichte des schönen Paares Herta und Georg, erzählt aus der Perspektive des Sohnes Philipp. Er nennt seine Eltern beim Vornamen und zeichnet ihre Biographien, Begegnungen und Handlungen nach. Die beiden lernen sich in einer Kleinstadt im Brandenburgischen vor dem II. Weltkrieg kennen. Sie ist eine Schönheit und träumt sich fort aus der Enge. Er ist groß, schlaksig und Soldat. Als der Krieg vorbei ist, bleiben sie dort. Georg hat eine Stellung in einem nahegelegenen Betrieb, muss aber überstürzt in den Westen fliehen, da sein Kontakt zum bundesdeutschen Verteidigungsministerium entdeckt wird. Die Mutter, mit einer teuren Ostkamera im Gepäck, und der Sohn folgen in die Schieferstadt Tautenburg. Der Neubeginn ist nicht einfach und die Kamera, als Wertanlage gekauft, lässt sich nicht veräußern. Daraus entsteht eine Katastrophe für das Paar und das Kind. Sie trennen sich und die Mutter verschwindet. Philipp wächst bei dem Vater auf.

Beharrlich leuchtet Gert Loschütz diese Liebesgeschichte aus, beschreibt dabei detailreich Episoden aus dem gemeinsamen Leben und erzählt dennoch sensibel und diskret.

 „Die Geschichte des schönen Paares ist eine Geschichte vom Verlust der Vorstellung eines möglichen Gelingens.“
(Marion Victor in Faust-Kultur; hier die vollständige Rezension)

Weitere Besprechungen:

Christoph Schröder schreibt in der ZEIT, der Liebesroman stecke voller literarischer Eleganz.

Lerke von Saalfeld fragt in der FAZ: Was manifestiert sich da?

Salli Sallmann von kulturradio rbb spricht von einem großen Roman über ein kleines Schicksal.

Gert Loschütz hat Gedichte, Theaterstücke, Drehbücher und Romane geschrieben. Er erhielt dafür zahlreiche Preise und Stipendien.

Freitag, 12. Oktober, 19 Uhr
Stadtbibliothek, Neumarkt 1
Einlass: 18.30 Uhr, Beginn: 19.00 Uhr
Moderation: Angelika Teller
Musikalische Begleitung: Valentin Katter, Trompete/Flügelhorn und Nils Rabente am Flügel
Eintrittspreis: 8,– €, ermäßigt 6,– €, Dauerkarte 50,– €

Hier findet ihr Ausleihhinweise zu den Büchern von Gert Loschütz und hier das gesamte Programm der Literaturtage.