Sarah bemerkte, wie ein Gefühl der Bitterkeit in ihr hochkroch, gemischt mit Verachtung. Wie ignorant und rückständig sie waren! Aber durfte man das – seine eigenen Familie verachten? Seine Familie musste man doch lieben! Das tat sie ja auch, überlegte Sarah. Sie verachtete nur ihre Rückständigkeit. Gerade weil sie ihre Familie liebte, schmerzte es sie zu sehen, wie zufrieden sie alle mit sich waren, obwohl
sie so weit hinter ihren Möglichkeiten zurückblieben. Wenn sie Boris nicht getroffen hätte, wäre sie jetzt vermutlich auch so. Sie konnten nichts dafür, sie mussten erst noch auf den richtigen Weg gebracht werden.
Das Genie von Klaus Cäsar Zehrer, Seite 204 bis 205
Im Jahr 1886 kommt Boris Sidis, ein ukrainischer Einwanderer, in New York an. Überzeugt davon, dass sein Verstand alles ist, was er benötigt, wirft er sein Gepäck und sein Erspartes fort. Mittellos steht er nun in New York, landet über einen Bekannten aber schließlich in Boston, wo er nach einiger Zeit gezwungen ist zu unterrichten, um sich zu finanzieren. Er ist ein guter Lehrer und geht dieser Beschäftigung auch gerne nach, jedoch ist es ihm unangenehm, dafür Geld zu nehmen. Er betrachtet Bildung als ein Gut, dass jedem zugänglich sein sollte, um die Menschen aus der Dummheit, an der seiner Ansicht nach die Meisten leiden, herauszuführen.
Bei seiner Lehrtätigkeit lernt er seine zukünftige Frau Sarah kennen. 1898 wird ihr gemeinsamer Sohn William James Sidis geboren. Zu diesem Zeitpunkt ist Boris zu einem berühmten Psychologen avanciert und findet es schier unerträglich, seinen Sohn zu einem „normalen“ Kind heranwachsen zu lassen. Er ist fest davon überzeugt, dass man jedes Kind dazu erziehen kann, ein Genie zu werden. Seine Methoden scheinen auch zu wirken. William lernt sehr früh zu sprechen, und zwar gleich 4 Sprachen auf einmal, diskutiert mit den Erwachsenen, kann zu jedem Datum in Zukunft oder Vergangenheit auf Anhieb den Wochentag nennen usw.
Ich bin momentan bei genau diesem Abschnitt von Williams Leben, nämlich seiner frühen Kindheit, nachdem sich der Großteil der ersten 200 Seiten hauptsächlich mit Boris Sidis beschäftigt hat. In der Beschreibung seiner frühen Erziehung bahnt sich schon an, warum wohl die wenigsten von William James Sidis gehört haben, obwohl er als der Mensch mit dem höchsten IQ gilt und als wahres Wunderkind gefeiert wurde. In seinem Erwachsenenleben kann er seine Genialität nämlich nicht nutzen, um etwas Bleibendes zu hinterlassen. Bei all seiner Erziehung, um aus William ein Genie zu machen, hat Boris nämlich auch viele Dinge außer Acht gelassen wie Fantasie oder soziale Kompetenzen. Da wundert es mich nicht, dass William nicht ganz der Mensch wird, den Boris sich gewünscht hat.
Obwohl sowohl Boris als auch seine Frau Sarah eher unsympathische Gesellen sind, finde ich es dennoch interessant von ihren Leben gelesen zu haben. Beide sind eher gezwungenermaßen in Amerika gelandet, beide sind durch Bildung voran gekommen und halten diese sehr hoch. Mit ihrer Verachtung und Überheblichkeit anderen Menschen gegenüber könnten sie allerdings etwas sparsamer umgehen. Ich gehe mal davon aus, dass sich die restlichen gut 400 Seiten des Buches nun aber eher auf William fokussieren werden, da es schließlich ein biographischer Roman über ihn ist, und bin schon gespannt, wie genau seine Wunderkindjahre und dann sein Leben als Erwachsener bis zu seinem frühen Tod verlaufen werden.
Klaus Cäsar Zehrer ist im Rahmen der Literaturtage übrigens am 23.10.2018 bei uns zu Gast und wird aus Das Genie lesen.
Die Details zur Lesung:
Dienstag 23. Oktober 2018
Stadtbibliothek, Neumarkt 1
Einlass: 18.30 Uhr, Beginn: 19.00 Uhr
Moderation: Harald Pilzer
Musikalische Begleitung: Thomas Schweitzer, Saxophon
Eintrittspreis: 8,– €, ermäßigt 6,– €, Dauerkarte 50,– €
Hier findet ihr Ausleihhinweise zum Buch und hier das gesamte Programm der Literaturtage.
lga
Elizzy von read books and fall in love hat sich für alle, die teilnehmen mögen, folgende Blogaktion ausgedacht: der „Mittendrin Mittwoch“. Er besteht aus immer neuen Zeilen aus Büchern, in denen wir aktuell wortwörtlich mittendrin stecken.
Ein Gedanke zu “Mittendrin Mittwoch #71”