Keine Sorge, ich werde hier keine Interpretation zum Gedicht liefern.
Ich erinnere mich an meinen Musikunterricht, denn dort habe ich den Text zum ersten Mal kennengelernt: der wunderschöne Frühlingsgruß in der Vertonung von Felix Mendelssohn Bartholdy. Der Text in unserem Musikbuch hatte einen Druckfehler, den wir mit Bleistift korrigieren sollten. Manchmal sind es solche Kleinigkeiten, die hängen bleiben (und ich verhaspele mich heute noch oft an eben dieser Stelle). Unser Lehrer begleitete unseren Klassenchor am Klavier; mir gefiel schon allein das Vorspiel.
Als wir das Stück zum ersten Mal eingeübt hatten, stellte unser Musiklehrer eine ungewöhnliche Frage: Ob wir uns vorstellen könnten, dass man dieses Lied nicht hören und nicht singen durfte zur Zeit seiner Kindheit und auch jetzt nicht kennen dürfte, wenn die damaligen Machthaber in Deutschland noch immer das Sagen hätten?
Ein harmloses Lied über Frühling, Blumen, Rosen, eine so bezaubernde Melodie – verboten?
Sowohl der Dichter Heinrich Heine als auch der Komponist Felix Mendelssohn Bartholdy waren Juden, beide galten auch schon zu Beginn des 20. Jahrhunderts als deutsche Klassiker, weltberühmt. Aber für die Nationalsozialisten durfte es keine jüdischen Künstler geben. Selbst die Werke längst verstorbener Künstler und Künstlerinnen wurden aus den Bibliotheken und Museen entfernt, aus den Konzertsälen verbannt. Sie sollten vergessen werden.

Pirasol / Roman von Susan Kreller. – Berlin-Verlag, 2017
Vor einem Jahr las ich den Roman „Pirasol“ von der Bielefelder Schriftstellerin Susan Kreller. Eine zentrale Szene im Buch erzählt, wie gefährlich schon allein das Rezitieren eines Heine-Gedichtes zur NS-Zeit sein konnte. Leider hatten – nicht nur im Roman – auch Bibliothekarinnen eine unrühmliche Rolle in diesen kulturvergessenen und menschenverachtenden Zeiten übernommen. Über das sehr empfehlenswerte Buch „Pirasol“ schrieb ich bereits an anderer Stelle.
Die Frage meines Musiklehrers und seine Erzählung sind mir tiefer in Erinnerung geblieben als die späteren Geschichtsstunden zum Thema Nationalsozialismus. Vielleicht weil es eine der ersten Konfrontationen mit der Frage war: „Kannst du dir vorstellen, wenn du damals gelebt hättest?“. Vielleicht gerade weil das Thema verknüpft ist mit so einem schönen, leichten, harmlosen Lied.
HilDa
danke für diesen wunderbaren, wertvollen, wichtigen beitrag.
es ist dieser bezug zum eigenen leben (hier durch die frage des lehrers hergestellt und durch die musik, die kunst), welches einen selbst auf einmal selbst so tief und wundersam berühren kann. nur so funktioniert ja eigentlich verstehen, begreifen… einen lieben gruß!
diana
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