„Wenn Jemand eine Reise thut, // So kann er was erzählen“ (Matthias Claudius) – Das wird ja manchmal missverstanden als „… dann muss er viel erzählen!“

Den alten Koffer habe ich mir aus der Kinderbibliothek ausgeliehen
Da habe ich gleich zwei Assoziationen. Einmal eine Kindheitserinnerung: Gleich am ersten Schultag nach den Großen Ferien wussten wir, das Thema „Mein schönstes Ferienerlebnis“ – als Hausaufgabe oder gar als Klassenarbeit – würde uns nicht erspart bleiben. Das konnte uns im Nachhinein schon wieder die Ferien verleiden.
Oder wer kennt nicht den Familienbesuch bei diesem Onkel, der schon den Dia-Projektor aufgebaut hatte und schöne Bilder von der Tour mit dem alten Camping-Bulli durch Skandinavien zeigte? Endlose zweieinhalb Stunden lang!
Heute blüht uns das natürlich immer und überall: beim harmlosen Small Talk werden plötzlich die Fotos gezückt – die hat man ja jetzt praktischerweise in der Hosentasche, sprich auf dem Smartphone immer dabei:
Dieses eine Bild muss ich Dir zeigen – wo ist es denn – *wischwisch* – hach, wir haben natürlich Hunderte Fotos gemacht, hihi – *wischwisch* – hier, da waren wir auch, Postkartenmotiv, das fotografiert ja jeder – *wischwisch* – und hier, lustig nicht – *wischwisch* – ach diese Sonnenuntergänge, jeden Abend so schön: hier und hier und hier …– *wischwisch* – aber was wollte ich dir noch mal zeigen – *wischwisch*
Ich muss leider sagen, so manche Reiseerzählung, die zwischen zwei Buchdeckeln gedruckt wird, ist nicht besser als das: eine Auswahl mehr oder weniger guter Amateurfotos und ein Text wie aus einem Schulaufsatz. Ich will jetzt nicht behaupten, dass wir bei unserer Auswahl für die Bibliothek niemals Fehlkäufe dieser Art dazwischen hätten. Und natürlich kann auch in einem Selbstverlag mal eine originelle Entdeckung zu finden sein.

Der Koffer ist gepackt: eine Auswahl Reiseberichte
Der Markt jedenfalls ist riesig. Wir könnten locker unseren gesamten Medienetat für das Sachgebiet Geografie nur für Reiseberichte und -erzählungen verbraten. Was wir aber nicht machen; unser Schwerpunkt liegt mehr bei den sachbezogenen Reiseführern, weniger bei den persönlichen Erlebnisberichten. Aber eine Auswahl schaffen wir in jedem Jahr an, denn literarische Reisebeschreibungen sind ein beliebtes Genre.
Beliebt war das Thema Reisen wohl schon an den Lagerfeuern der Steinzeit: Geschichten über das Gesehene und Erlebte jenseits des Horizonts wurden ausgeschmückt, über mehrere Generationen weitererzählt und schließlich zu Mythen, Legenden, Märchen, zuletzt vielleicht sogar von einem Dichter als Epos niedergeschrieben und verewigt. Das berühmteste Beispiel aus der Antike ist natürlich Homers Odyssee.
Das Motiv der Heldenreise ist ein Grundmuster in fiktionalen Erzählungen oder auch in Hollywoodfilmen: Der ungestüme Held zieht hinaus in die Welt, er muss fliehen oder wird mit einer Aufgabe fortgeschickt; er sieht wundersame Dinge, muss phantastische Abenteuer bestehen, gewinnt ungewöhnliche Freunde, muss sagenhafte Feinde besiegen; er besteht Prüfungen, löst Rätsel und erhält Zauberdinge; doch am Ende kehrt er in seine Heimat zurück – mit der rettenden Erkenntnis oder dem gesuchten Zaubergegenstand, aber vor allem klüger und verantwortungsvoller, ja erwachsener, denn die Heldenreise ist eben auch eine Reise zu sich selbst, eine Entwicklungsgeschichte, eine Initiation.
Ich habe jetzt sehr weit ausgeholt. Aber die Motive sind bis heute die gleichen geblieben, und man findet sie auch in nicht-fiktionalen Texten wie z.B. im Aufbau einiger Reisereportagen.
Als Leser erwarten wir von einer guten Reiseerzählung:
- Exotik
- Abenteuer und Anekdoten
- nicht zuletzt Persönliches über den Erzählenden: wir wollen wissen, was die Reise mit ihm oder mit ihr gemacht hat.
Exotische Orte sind für uns heute nicht mehr unerreichbar, sie sind vom Pauschaltourismus erschlossen und in den Medien erklärt, sei es im Reiseführer, Bildband oder im dokumentarischen Film.
Exotisch kann aber auch die Art des Reisens sein:
- als Minderjährige allein im Segelboot um die Welt,
- mit dem Esel durch die Cevennen,
- schwimmend durch britische Flüsse und Seen,
- mit der Linie 4 durch verschiedene Metropolen,
- mit Wohnwagen, aber ohne Fahrzeug um die Welt
- oder Couchsurfing.
Das sind nur einige Beispiele.
Abenteuer und Anekdoten kann man durchaus auch im Weserbergland erleben. Es geht da weniger um Ort und Ziel der Reise, sondern um Originalität und vor allem das Wie des Erzählens. Wenn der in die Jahre gekommene Schriftsteller Bill Bryson so umwerfend komisch von seiner Wanderung zusammen mit seinem, nun sagen wir, auch nicht sehr sportlichen Freund erzählt, spielen weniger der Appalachian Trail oder die titelgebenden Bären die Hauptrolle (Picknick mit Bären, übrigens auch hinreißend verfilmt).

Frühstück mit Kängurus / von Bill Bryson
Bill Bryson könnte, glaube ich, über jeden beliebigen Gegenstand humorvoll, selbstironisch und geistreich berichten.
Ähnlich gelang es Hape Kerkeling, das Pilgern und die historischen Pilgerrouten losgelöst vom religiösen Kontext wieder populär zu machen. Natürlich durch seine Komik, klar: Der berühmte Comedian machte aus dem Thema einen deutschen Mega-Bestseller, gedruckt und verfilmt; und auf dem Jakobsweg stieg in den Jahren nach der Veröffentlichung von „Ich bin dann mal weg“ die Zahl der deutschen Touristen auffällig an (der „Kerkeling-Effekt“). Der Autor gibt allerdings auch viel von sich selber preis, wie er in einer Schaffenskrise aufbricht zu einer ungewöhnlichen Reise und als veränderter Mensch heimkehrt. Und uns alle lässt er daran teilhaben.

„Die Welt im Notizbuch“ von Ryszard Kapuscinski
Bei einer Reisereportage und einem Reisebericht erwarten wir, dass die Autorin / der Autor tatsächliche Begebenheiten schildert und wahre Erlebnisse erzählt. Aber nicht nur Karl May hat seine „Reiseerzählungen“ schlicht erfunden. In Polen wurde Ryszard Kapuściński als Journalist des Jahrhunderts ausgezeichnet; doch wenige Jahre nach seinem Tod wurden Zweifel am Wahrheitsgehalt einiger seiner Reportagen laut. Er habe fabuliert und die Fakten seinem erzählerischen Ziel untergeordnet, schrieb sein Biograf Domosławski. Aber auch wenn man diese Reportagen jetzt etwas zwiespältiger liest, gut geschriebene Literatur ist es allemal.
Ob am Lagerfeuer, in gedruckter Form, verfilmt oder im Blog – so viel hat sich nicht in diesem Genre geändert. Fakt und Fiktion fließen gerne mal durcheinander, sei es um der Dramaturgie des Textes willen oder um an der eigenen Legende zu stricken.
Das setzt mich als Bibliothekarin dann vor das Problem, dass ich nicht immer weiß, wohin ich das Buch stellen soll:
-
„Post aus Hawaii“ von Mark Twain
Mark Twains vergnügliche Reiseberichte (z. B. „Post aus Hawaii„) aus dem Ende des 19. Jahrhunderts vielleicht besser nicht zur Geografie, sondern neben seine anderen Erzählungen und Romane? Oder zu seinen autobiografischen Schriften in die Literaturwissenschaft?
- Hape Kerkelings Buch zu den Schauspieler-Biografien?
Geht es in einem Reisebericht um das Reisen an sich oder steht die Beschreibung einer Region, der dortigen Sitten und der Bewohner im Vordergrund? Wo findet das Werk am ehesten seine Leser*innen?
Wenn Ihr in der Bibliothek ganz allgemein nach Reiseberichten fragt, findet Ihr diese nicht alle an einer Stelle versammelt. Die literarische Reisebeschreibung ist nun mal kein eindeutiges Genre und passt schlecht in unsere eindimensionale Aufstellungssystematik.
Nur kurz erwähnen möchte ich noch die wissenschaftliche Reisebeschreibung: die Berichte und Tagebücher zu den großen Forschungs- und Entdeckungsreisen der Geschichte. In diesem Jahr ist da besonders Alexander von Humboldt und sein Werk zu nennen.
Wir wollen Land und Leute erleben, wie wir sie selbst wohl nie mit eigenen Augen wahrnehmen und schon gar nicht in Worte fassen könnten. Wir wollen beim Lesen unterhalten werden, vielleicht mitlachen, vielleicht mitleiden – und schön bequem die Füße dabei hochlegen können. Wir wollen mehr über die Persönlichkeit des Autors oder der Autorin erfahren und durch die Erfahrungen des anderen auch selbst ein wenig klüger und verantwortungsvoller, ja erwachsener werden. Denn Lesen und das Eintauchen in die Gedanken und Erkenntnisse eines anderen kann eben auch eine Reise zu sich selbst sein, eine Entwicklungsgeschichte, eine Heldenreise im Lesesessel.
Einige wenige Beispiele und Empfehlungen habe ich in diesen Text einfließen lassen. Mit den Hashtags #Reisebericht und #LesezeichenDerWoche geben wir einzelne Tipps auf Twitter. Und auch hier im Blog werden wir auf das Thema sicher zurückkommen: Wir haben gerade erst neue Reiseerzählungen bestellt.
Der nächste Koffer kann also demnächst gepackt und vorgeführt werden.
HilDa
(Für das Blog überarbeiteter Vortrag)
Ein Gedanke zu “Literarische Reisebeschreibungen”