Naheliegend, dass man bei einer Lesung vor Publikum laut liest. Oder überhaupt wenn man jemandem vorliest. Aber ich lese manchmal auch nur für mich alleine laut, lese also nur mir selber vor.
Nun, die einfachste Erklärung ist: Ich spiele in meiner Freizeit Theater und trainiere mit dem lauten Lesen meine Stimme, meine Aussprache, meine Modulation. Das ist übrigens auch für Nicht-Schauspieler sinnvoll, denn jeder kommt mal in die Verlegenheit, dass er besonders laut, deutlich und ausdrucksstark reden muss – auf einer Bühne, am Rednerpult, in einem Schulungsraum, bei einem Vorstellungsgespräch oder bei einer Bibliotheksführung. 🙂 Da wollen wir dann doch klar, verständlich und vor allem nicht eintönig und verdruckst herüberkommen. Und jeder, der schon mal eine Nacht durchgegrölt hat, weiß, dass eine Stimme auch überanstrengt werden kann. Lautlesen ist wirklich ein gutes Stimmtraining, und eine trainierte Stimme wird nicht so schnell heiser.
Na ja, zumindest waren das die Gründe, warum ich mit dem lauten Lesen nur für mich selbst begonnen habe. Mittlerweile gehört das Lautlesen aber zu meinem Genusslesen dazu. Natürlich gibt es Bücher, bei denen mich einfach nur der Inhalt oder die Story interessiert, ich lese sie schnell, überfliege die Seiten womöglich sogar nur oder lese gar quer, d.h. ich überspringe viel und lese nur das für mich gerade wesentliche. Aber manche Texte zwingen, nein, verführen zum langsamen und aufmerksamen Lesen. Schön konstruierte Sätze, feine Metaphern, wechselnde Perspektiven, Mehrdeutigkeiten und Ironie – das macht das Lesen nicht unbedingt einfach. Aber zum Genuss. Es fordert zum Interpretieren und manchmal auch Experimentieren heraus. Dann spiele ich gerne mit Rhythmus und Geschwindigkeit, mit unterschiedlichen Stimmen bei den Dialogen, ich höre dem Klang der Sprache nach oder teste ihre Doppelbödigkeit. Lesegenuss, den ich mir buchstäblich auf der Zunge zergehen lasse.
Bei Dramentexten ist es ganz klar, dass man sie sprechen muss. Bei Lyrik auch, Lyrik muss man laut lesen und jedes Wort und jede Pause, ja jedes Satzzeichen ausprobieren, denn alles hat in einem Gedicht eine Bedeutung und beeinflusst Sprache, Sprechen und Wirkung. Lyrik ist zur Rezitation geschrieben.
Und manchmal überkommt es mich sogar bei gut formulierten Sachtexten und eben bei Erzählungen und Romanen – ich lese sie zumindest passagenweise laut. Das zwingt mich zur Langsamkeit, so manchen Abschnitt oder Satz muss ich sogar mehrfach lesen. Aber es ist eben auch ein intensives Lesen, bei dem ich spontan interpretiere oder verschiedene Interpretationen ausprobiere – und so die Schönheit der Sprache würdige, in der der Text verfasst ist, das Sprach-Kunstwerk.
Wir lesen laut!
Das ist das diesjährige Motto der Literaturtage Bielefeld. Im Vorwort des Programmheftes heißt es: „Die mündliche Überlieferung steht am Anfang aller Literatur. Geschichtenerzähler, Barden, manchmal waren es Schamanen oder gar Heilige, haben in vielen Kulturen ihre Kenntnisse und Phantasien vorgestellt …“. Literatur und Theater haben also durchaus die gleichen Vorläufer. Das geschriebene Wort und die Rezitation gehören zusammen.
Wir lesen laut!
Das Motto hat sogar ein Ausrufezeichen. Da ist nicht nur das Vorlesen während der zwölf Veranstaltung im Oktober gemeint. Das ist auch ein Statement: Wir geben der Kunst des Erzählens eine Stimme und wir wollen die Schönheit der Sprache genießen und feiern – gerne gemeinsam mit Euch.
Das vollständige Programm zu den 24. Bielefelder Literaturtagen findet Ihr hier.
HilDa
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