Juliana Kálnay „aufgeschlagen: OWL: Die Stadt ist nicht die Stadt – 80 Feststellungen“

Literaturtage Bielefeld 2019: Wir lesen laut!

„Seitdem der Fluss trocken ist, regnet es in der Stadt“.

In Bielefeld gibt es keinen Fluss, da die nicht standesgemäße Geliebte des Grafen sich mit Steinen in den Rocksäumen in ihm ertränkte. Dieses Unglück mussten Fluss und Wassergräben mit ihrer Trockenlegung büßen.  Die Schriftstellerin Juliana Kálnay hat für eine Auftragsarbeit des Literaturbüros OWL ihr eigenes Kapitel zur „OWL-Metropole“ aufgeschlagen. Im März durchstreifte sie Bielefeld im Dauerregen und mit Notizbuch in der Tasche. Entstanden sind „80 Feststellungen – Die Stadt ist nicht die Stadt“. Es ist eine, so Kálnay, „poetische Verschränkung“, eine prosaische, assoziative Annährung an die Menschen, die Geschichte(n), die Plätze und Straßen der Stadt, in der Reales und Fantastisches ineinanderfließen. In der Stadtbibliothek erlebt der Text seine Urlesung.

Früher sagten die Leute häufiger, man würde jemanden durchhecheln, wenn man schlecht über ihn redete. Aber wir müssen auch nicht alle über einen Kamm scheren. (Juliana Kálnay, Die Stadt ist nicht die Stadt)

Einen anderen Blick auf eine westliche Großstadt, die namenlos bleibt und Bielefeld sein könnte, richtet F. C. Delius mit seinem Roman „Adenauerplatz“. Die Schauspielerin Inka Friedrich geht in ihrer Lesung mit dem deutsch-chilenischen Exilanten Felipe durch die nächtliche Stadt, schaut aus der Distanz des Außenstehenden bis ins Innerste. Inka Friedrich liest an Stelle der kurzfristig verhinderten Schauspielerin Jeanette Hain.

Juliana Kálnay, geboren 1988, wuchs in Köln und Malaga auf. Für ihren 2017 erschienenen Debütroman „Eine kurze Chronik des allmählichen Verschwindens“ wurde sie 2017 mit dem ZDF-aspekte Literaturpreis sowie dem Hebbelpreis 2018 ausgezeichnet.

Inka Friedrich (geboren 1965) wurde 1990 vom Magazin Theater heute zur Nachwuchsschauspielerin des Jahres gewählt und ist nach mehreren festen Engagements seit 1998 als freie Schauspielerin an vielen Bühnen im deutschsprachigen Raum tätig. Bekannt ist sie auch durch viele Film- und Fernsehrollen.

Das Werk von Juliana Kálnay in unserem Online-Katalog findet Ihr hier, ebenso den Roman „Adenauerplatz“ von Friedrich Christian Delius;
das Literaturverzeichnis zur Lesung hier als PDF: Kalnay

Der Debütroman von Juliana Kálnay wurde im Feuilleton bei seinem Erscheinen 2017 geradezu hymnisch gelobt, z. B. in der TAZ; der ZDF-Beitrag zum Aspekte-Literaturpreis 2017 ist hier.
Zu den aktuellen Texten gibt es natürlich noch keine Besprechungen, sie werden am 31.10 erstmals vorgestellt.

Donnerstag, 31. Oktober, 20 Uhr
Stadtbibliothek, Neumarkt 1
Einlass: 19.30 Uhr, Beginn: 20.00 Uhr
Moderation: Iris Hennig, Leiterin des Literaturbüros OWL
Musikalische Begleitung: Matthias Kämper, Flügel
Eintrittspreis: 8,– €, ermäßigt 6,– €, Dauerkarte 50,– €

In Kooperation mit dem Literaturbüro OWL und der Literarischen Gesellschaft OWL.

Heinz Helle: Die Überwindung der Schwerkraft

Literaturtage Bielefeld 2019: Wir lesen laut!

Ich fragte mich wieder einmal, ob es denn wirklich so gut sei, dass Menschen sich fortpflanzten, angesichts des Leids, das sie verursachten…

Heinz Helles Buch zu lesen, ist ein intellektuelles Vergnügen, aber es ist keine amüsante Lektüre. Es ist eine philosophische Betrachtung über Sinn und Zweck dieser Welt, über Tod und Geburt, über Gewalt und Sinnlosigkeit. Für Die Zeit ist die „Überwindung der Schwerkraft“ ein eleganter, essayistischer Roman, eine „dichte Meditation über das Universum im Allgemeinen und über Männlichkeit, Frauen und Deutschland im Besonderen“ (Rezension von David Hugendick). Und über die fundamentale Lebensfrage: Kinder in die Welt setzen – ja oder nein.
Zwei Brüder philosophieren eine lange Nacht über den Zustand der Welt. Kurze Zeit nach dieser gemeinsamen Tour durch Münchens Kneipen stirbt der Ältere an den Folgen seiner Alkoholsucht. Übrigens eine Parallele zu Helles Biographie, der ebenfalls einen Bruder an den Alkohol verloren hat.
Den Roman zu lesen ist eine Herausforderung. 200 Seiten ohne einen Absatz, ohne Kapitel, manche Sätze atemlos lang, eine Kette von klugen Gedanken. Ein Lesestoff mit Sogkraft – Konzentration vorausgesetzt.
Der Autor schont seine Leser nicht. Detaillierte Schilderungen der bestialischen Gewalt eines Marc Dutroux, der in Belgien in einem Keller über Jahre Kinder quälte und sexuell missbrauchte. Er ermordete zwei von ihm entführte junge Frauen und ließ zwei Mädchen verhungern. All das kann man nur schwer ertragen. Und trotzdem können wir uns – gemeinsam mit dem Autor – für ein Leben in dieser Welt entscheiden. Und lernen, „das Leben mit Härte und Widersprüchen zu verstehen, ohne vor die Hunde zu gehen“ (Carsten Hueck im Deutschland Funk Kultur).

Es ist das Buch, das mir am meisten Angst macht. Es ist aber das, was ich am liebsten habe. Wahrscheinlich deswegen, weil ich das, was mich selber tief verunsichert und aufwühlt, da ziemlich direkt verarbeitete. (Heinz Helle über sein Buch „Die Überwindung der Schwerkraft“)

Heinz Helle ist promovierter Philosoph, er lebt mit Frau und Kind in Zürich. Für „Die Überwindung der Schwerkraft“ erhielt er in diesem Jahr den Literaturpreis der Stadt Bremen und war 2018 nominiert für den Schweizer Buchpreis.

Die Werke von Heinz Helle in unserem Online-Katalog findet Ihr hier,
das Literaturverzeichnis zur Lesung hier als PDF: Helle

Mittwoch, 30. Oktober, 20 Uhr
Stadtbibliothek, Neumarkt 1
Einlass: 19.30 Uhr, Beginn: 20.00 Uhr
Moderation: Solveig Münstermann, WDR-Journalistin
Musikalische Begleitung: Valentin Katter, Gesang und Trompete; Leon Brames, Schlagzeug; Milan Böse, Bass.
Eintrittspreis: 8,– €, ermäßigt 6,– €, Dauerkarte 50,– €

Norbert Gstrein: Als ich jung war

Literaturtage Bielefeld 2019: Wir lesen laut!

Was wissen wir von den anderen? Was von uns selbst?

Am Anfang ist da nur ein Kuss. Aber gibt es das überhaupt, nur ein Kuss? Franz wird Jahre brauchen, die Ereignisse einer einzigen Nacht seiner Jugend zu verstehen. Hungrig nach Leben und sehnsüchtig nach Glück, findet er sich auf Wegen, bei denen alle Gewissheiten fraglich werden.
Franz wächst im hintersten Tirol auf und muss dem Vater beim Ausrichten von Hochzeitsfesten helfen. Er fotografiert die Paare »am schönsten Tag ihres Lebens«, bis bei einer Feier die Braut ums Leben kommt. Was hat das mit ihm zu tun? Was damit, dass er nur Wochen zuvor am selben Ort ein Mädchen geküsst hat? Er flieht nach Amerika. Doch dann stirbt auch dort jemand: ein Freund von Franz, in dessen Leben sich ebenfalls mögliche Gewalt und mögliche Unschuld die Waage halten. Was wissen wir von den anderen? Was von uns selbst? Dieser Roman über Liebe und Begehren, Eigenständigkeit und Einsamkeit stellt sich den existentiellen Fragen mit poetischer Genauigkeit. (Verlagstext).

…labyrinthisch, unkorrekt, Vergangenes und Jetziges, Räume und Zeiten gegeneinander schneidend. Ein schillerndes Buch der „unangenehmen Gefühlswahrheiten“, scheinbar einfach erzählt, doch verdammt raffiniert. (Paul Jandl in der Neuen Zürcher Zeitung)

Norbert Gstrein, geboren 1961 in Mils in Tirol, studierte Mathematik in Innsbruck, arbeitete zu sprachphilosophischen Themen in Stanford und Erlangen. Er lebte in Paris, Zürich, London und heute in Hamburg.

Die Werke von Norbert Gstrein in unserem Online-Katalog findet Ihr hier.
Das Literaturverzeichnis zur Lesung gibt es auch als PDF: Gstrein

Im Blog hatte die Kollegin lga den Roman „Als ich jung war“ bereits kurz vorgestellt: MittendrinMittwoch #107.
Christof Schröder ist in seiner Rezension in der ZEIT sehr angetan von dem Unbehagen, das die Lektüre erzeuge – und von der Kunst des Autors.
Ein aufschlussreiches Interview von Carsten Otte mit dem Autor sendete SWR2.

Der Roman steht auf der Shortlist zum Österreichischen Buchpreis 2019, der Gewinner wird am 4.11. bekannt gegeben. Wir drücken die Daumen.

Freitag, 25. Oktober, 20 Uhr
Stadtbibliothek, Neumarkt 1
Einlass: 19.30 Uhr, Beginn: 20.00 Uhr
Moderation: Klaus-Georg Loest
Musikalische Begleitung: Henning Rice, Flügel; Valentin Katter, Trompete und Gesang
Eintrittspreis: 8,– €, ermäßigt 6,– €, Dauerkarte 50,– €

Nachtrag vom 5.11.2019: Norbert Gstrein erhält für seinen Roman „Als ich jung war“ den Österreichischen Buchpreis 2019. Wir gratulieren ganz herzlich.

Isabel Bogdan: Laufen

Literaturtage Bielefeld 2019: Wir lesen laut!

„FERTIG. Mit dem Buch. Ich muss das jetzt noch mal hinschreiben, damit ich es glaube:
Der neue Roman ist fertig
Er ist …in Satz gegangen. Und ich übe mich im Loslassen und Ausatmen.“

Isabel Bogdan war erleichtert. Anfang Mai verkündete sie auf ihrer Website, dass ihr neues Werk „Laufen“ in Druck geht. Erscheinungsdatum war der 12. September, rechtzeitig für die Literaturtage in Bielefeld.
Die Autorin ist hauptberuflich hochgeschätzte Übersetzerin, u.a. von Jonathan Safran Foer und Jane Gardam. Sie ist Bloggerin und seit 2016 auch Schriftstellerin. Ihr erster Roman „Der Pfau“ wurde auf der Stelle ein Bestseller – eine unterhaltsame, feinsinnige Komödie mit britischem Charme, angesiedelt in den schottischen Highlands. Der Pfau wird leider verrückt, attackiert alles Blaue und torpediert alle Bemühungen von Investment-Bankern, sich als Team wieder zusammen zu raufen. Das gruppendynamische Chaos nimmt seinen Lauf und der Pfau landet schließlich als Gänsebraten auf dem Tisch. Was für ein Schicksal!
Themenwechsel: Isabel Bogdan wechselt in ihrem neuesten Werk „Laufen“ die literarische Kulisse. Ein Roman über eine Frau, die nach einem schweren Schicksalsschlag quasi um ihr Leben läuft. Erst kurze Strecken, dann immer längere. Sie läuft förmlich ins Leben zurück. Es geht keineswegs nur um Gesundheit und Leichtigkeit, sondern um fundamentalere Fragen: Wie verkraftet man einen solchen Verlust? Welche Rolle spielen Freunde und Familie? Welche Rolle spielt die Zeit? Und der Beruf? Mit jedem Kilometer gewinnt die Läuferin ihre alte Souveränität zurück, ihren Humor und offensichtlich auch ihre Lebensfreude.

„Ein Buch zu schreiben ist eine Kunst. Es zu übersetzen, ist eine andere, ganz eigene Kunst.“ Isabel Bogdan.

Isabel Bogdan erhielt 2006 den Förderpreis für literarische Übersetzung, fünf Jahre später den für Literatur. 2013 war sie für einen Monat Artist in Residence an der Universität in Nanjing. Ihr erster Roman „Der Pfau“ stand im Erscheinungsjahr auf der Shortlist zum „Lieblingsbuch des unabhängigen Buchhandels“ und wurde außerdem mit dem deutschen Hörfunkpreis „Hörkules“ ausgezeichnet.

Die Angaben zu den Romanen und einigen Übersetzungen von Isabel Bogdan im Bestand der Stadtbibliothek findet Ihr hier in unserem Online-Katalog.
Das Literaturverzeichnis zur Lesung gibt es hier als PDF: Bogdan

Über den Roman „Laufen“ wird zurzeit viel berichtet, hier nur ein paar Beispiele:
Daniel Kaiser stellt „Laufen“ ausführlich im NDR Kulturjournal als Buch des Monats vor:
Carsten Otte lobt den Roman in der ZEIT – und traut der Autorin in der Zukunft noch weitere große Werke zu, wiederum ganz anders und überraschend.
Ein Interview mit Isabel Bogdan auf der Frankfurter Buchmesse findet man in der 3Sat-Mediathek.

Sehr empfehlenswert auch ihr Blog: is a Blog

Donnerstag, 24. Oktober, 20 Uhr
Stadtbibliothek, Neumarkt 1
Einlass: 19.30 Uhr, Beginn: 20.00 Uhr
Moderation: Solveig Münstermann, WDR-Journalistin
Musikalische Begleitung: Henning Rice, Flügel und Ismail Özgentürk, Saxophon
Eintrittspreis: 8,– €, ermäßigt 6,– €, Dauerkarte 50,– €

Unsere neue Auszubildende stellt sich vor

Einen schaurig schönen Herbsttag wünscht euch Louisa Vahle, die neue Auszubildende der Stadtbibliothek Bielefeld! Ich melde mich aus Brackwede, wo ich als Teil meiner Ausbildung noch bis November durch die Räumlichkeiten der Stadtteilbibliothek spuke. Als Fachangestellte in einer Bibliothek agiert man natürlich eher wie das Gegenteil eines Poltergeistes, denn die haben mit Ruhe und Ordnung bekanntlich nicht so viel am Hut. Aber genug mit den Halloween-Anspielungen – immerhin sind es ja auch noch ein paar Tage bis zum 31.

Ich bin jedenfalls sehr glücklich, dass mich mein Weg in die FAMI-Ausbildung der Stadt Bielefeld geführt hat. Sowohl die Art und Vielfältigkeit der Aufgaben als auch die Mitarbeiter in der Stadtbibliothek, die ich bisher kennen lernen durfte, haben die ersten Wochen wie im Flug vergehen lassen. Und wie mir bereits häufiger versichert wurde, werden ihnen die nächsten Wochen und Monate ebenso zügig folgen.

Ich freue mich darauf euch, liebe Leser*innen, kennen zu lernen!

Louisa Vahle

Prof. Dr. Ute Frevert: Scham, Beschämung, Demütigung

Literaturtage Bielefeld 2019: Wir lesen laut!

Haben Gefühle eine Geschichte? Und: Machen Gefühle Geschichte?

Wie lässt sich erklären, dass geschorene Haare, besonders bei Frauen, der Einsatz von Schandmützen und andere Praktiken der Beschämung in Europa bis in die Nachkriegszeit durchgeführt wurden? Inwiefern ist Scham ein „Gefühl von ungeheurer Wucht und Wirkmächtigkeit“, wobei die Zeugenschaft Dritter von größter Bedeutung ist? Und weshalb sind Praktiken der politischen Demütigung eine Strategie, Macht zu demonstrieren und durchzusetzen?
Für „das Drama von Macht und Ohnmacht, Scham und Schande, Täter und Opfer“, Beschämung und Demütigung, das stets auf öffentlichen Schauplätzen stattfindet, liefert die moderne Geschichte vielfaches Anschauungsmaterial, das Ute Frevert in ihrem Vortrag präsentiert. Er bezieht sich auf ihr 2017 erschienenes Buch „Die Politik der Demütigung. Schauplätze von Macht und Ohnmacht“.

Prof. Dr. Ute Frevert, geb. 1954, zählt zu den wichtigsten deutschen Historikerinnen und Historikern. Nach ihrer Habilitation – „Das Duell. Ehrenmänner in der bürgerlichen Gesellschaft“ (erschienen 1991) – lehrte sie Neuere Deutsche Geschichte in Berlin, Konstanz und Bielefeld. Von 2003 bis 2007 war sie Professorin an der Yale University, seit 2008 leitet sie den Forschungsbereich „Geschichte der Gefühle“ am Max-Planck-Institut für Bildungsforschung in Berlin. 1998 wurde sie von der DFG mit dem Leibniz-Preis ausgezeichnet und erhielt 2016 das deutsche Verdienstkreuz 1. Klasse. Zuletzt erschienen: Vertrauensfragen. Eine Obsession der Moderne (2013), Vergängliche Gefühle (2013), Die Politik der Demütigung. Schauplätze von Macht und Ohnmacht (2017) und Kapitalismus, Märkte und Moral (2019).

Die Daten zu Prof. Dr. Ute Freverts Werken in unserer Bibliothek findet Ihr in unserem Online-Katalog.
Die Literaturliste zum Ausdrucken als PDF: Frevert
Den Flyer zur Ausstellung „Die Macht der Gefühle. Deutschland 19|19“ findet Ihr hier als PDF

Mittwoch, 16. Oktober, 20 Uhr
Stadtbibliothek, Neumarkt 1
Einlass: 19.30 Uhr, Beginn: 20.00 Uhr
Moderation: Dr. Maria Kublitz-Kramer
Musikalische Begleitung: Matthias Klause-Gauster, Flügel
Eintrittspreis: 8,– €, ermäßigt 6,– €, Dauerkarte 50,– €

Bereits um 19 Uhr findet die Eröffnung der Ausstellung:
Die Macht der Gefühle. Deutschland 19|19“, von Prof. Dr. Ute und Bettina Frevert
im Auftrag der Stiftung „Erinnerung, Verantwortung und Zukunft“ (EVZ) erstellt,
im 1. Obergeschoss statt.

 

Marion Brasch: Lieber woanders

Literaturtage Bielefeld 2019: Wir lesen laut!

Wer wäre nicht manchmal „Lieber woanders“, so der programmatische Titel des neuen Romans von Marion Brasch.
Die junge Toni lebt in einem Dorf unweit von Berlin in einem Wohnwagen und möchte nach Neuseeland auswandern. Alex arbeitet als Roadie, hat eine Frau, eine Tochter und eine Geliebte. Alex und Toni kennen sich nicht, dennoch verbindet sie eine gemeinsame Geschichte, die ihrer beider Leben nachhaltig verändert hat. Nach sieben Jahren, am Ende eines Tages im Oktober, werden sich ihre Wege wieder kreuzen. Wendungsreich und multiperspektivisch erzählt, geht es um Schuld und Sühne sowie die Unverhandelbarkeit des Schicksals und trügerische Erinnerungen, also um das Leben schlechthin. Dabei ist der Ton niemals larmoyant, manchmal komisch, manchmal melancholisch und seinen beiden Protagonisten auf den Leib geschneidert. 

„…ein feines Buch über Zufälle und Gedankenspiele – und das wunderbare Prinzip der Ziellosigkeit.“ dpa

Marion Brasch, 1961 in Berlin geboren, arbeitet als Rundfunkjournalistin und hat bisher vier Bücher veröffentlicht. Ihr Debüt gab sie mit dem autobiographischen Roman „Ab jetzt ist Ruhe“ über ihre berühmte Familie. Braschs jüdische Eltern siedelten nach der Rückkehr aus dem Exil nach Ostberlin über. Der Vater wurde ein von der Sache überzeugter ranghoher Funktionär in der DDR-Nomenklatura, während die drei heranwachsenden Söhne rebellierten. Alle Brüder von Marion Brasch wurden als Dramatiker, Schauspieler oder Autoren berühmt, scheiterten jedoch an ihrer eigenen Zerrissenheit und starben früh. Gerne werden die Braschs auch als die Manns des Ostens bezeichnet.
Marion Brasch hat sich mit den drei folgenden Romanen von dieser Familiengeschichte emanzipiert und ihren ganz eigenen erzählerischen Stil gefunden.

Die Daten zu Marion Braschs Werken findet Ihr in unserem Online-Katalog,
die Literaturliste gibt es auch zum Ausdrucken als PDF: Brasch
Am 3.11. zeigt die Literarische Gesellschaft OWL in Kooperation mit dem Lichtwerk in einer Matinee den 2018 gedrehten Film „Familie Brasch“. Anschließend gibt es ein Gespräch mit Marion Brasch.

Freitag, 11. Oktober, 20 Uhr
Stadtbibliothek, Neumarkt 1
Einlass: 19.30 Uhr, Beginn: 20.00 Uhr
Moderation: Dr. Dagmar Nowitzki
Musikalische Begleitung: Nils Rabente, Bass und Kevin Hemkemeier, Flügel
Eintrittspreis: 8,– €, ermäßigt 6,– €, Dauerkarte 50,– €

Eine Veranstaltung in Kooperation mit der Literarischen Gesellschaft OWL.

Olga Tokarczuk: Die Jakobsbücher

Literaturtage Bielefeld 2019: Wir lesen laut!

Den einen galt er als Weiser und Messias, den anderen als Scharlatan und Ketzer. Eine der bedeutendsten Figuren des 18. Jahrhunderts ist er allemal: Jakob Frank, 1726 im polnischen Korolówka geboren, 1791 in Offenbach am Main gestorben. Als Anführer einer mystischen Bewegung, der Frankisten, war Jakob fest entschlossen, sein Volk, die Juden Osteuropas, endlich für die Moderne zu öffnen; zeit seines Lebens setzte er sich für ihre Rechte ein, für Freiheit, Gleichheit, Emanzipation. Tausende Anhänger scharte Jakob um sich, tausende Feinde machte er sich. Und sie alle, Bewunderer wie Gegner, erzählen hier die schier unglaubliche Lebensgeschichte dieses Grenzgängers, den es weder bei einer Religion noch je lange an einem Ort hielt. Es entsteht das schillernde Porträt einer kontroversen historischen Figur und das Panorama einer krisenhaften Welt an der Schwelle zur Moderne. Zugleich aber ist Olga Tokarczuks ebenso metaphysischer wie lebenspraller Roman ein Buch ganz für unsere Zeit, stellt es doch die Frage danach, wie wir uns die Welt als eine gerechte vorstellen können – ein Buch, das Grenzen überschreitet.
Olga Tokarczuks neuer Roman ist voll skurrilem Witz, voller Welterkenntnis.

„Von der Größe eines W. G. Sebald.“ (Annie Proulx)

1962 geboren, studierte Olga Tokarczuk in Warschau Psychologie, lebt im südpolnischen Eulengebirge und ist heute eine bedeutende europäische Schriftstellerin des magischen Realismus. Den Man Booker International Prize 2018 erhielt sie für ihren Roman, der auf Deutsch unter dem Titel „Unrast“ erschien.
Meine Kollegin hat den Unrast vor kurzem gelesen, ihr Blogbeitrag dazu hier.

Am 10.10.2019 verkündete die Schwedische Akademie in Stockholm, dass Olga Tokarczuk den Nobelpreis für Literatur 2018 erhält.

Unsere Katalogdaten zu den Werken von Olga Tokarczuk findet Ihr hier und die Literaturliste zum Ausdrucken als PDF Tokarczuk

Der Kampa-Verlag bietet ein berührendes Video-Porträt der Autorin an.

Donnerstag, 10. Oktober, 20 Uhr
Stadtbibliothek, Neumarkt 1
Einlass: 19.30 Uhr, Beginn: 20.00 Uhr
Übersetzer: Dr. Lothar Quinkenstein
Lesung der deutschsprachigen Texte: Dr. Barbara Frey
Moderation: Klaus-Georg Loest
Musikalische Begleitung: Axana Derksen, Gesang und Flügel
Eintrittspreis: 8,– €, ermäßigt 6,– €, Dauerkarte 50,– €

Michael Krüger: Vorübergehende

Literaturtage Bielefeld 2019: Wir lesen laut!

Der namenlose Ich-Erzähler ist ein Kulturpessimist par exellence. Er beobachtet seine Umwelt und scheint dabei von Weltekel erfüllt. In beißenden kleinen Exkursen seziert er den sogenannten Zeitgeist. Beispielsweise mokiert er sich über den heutigen Massentourismus:

„… die Städtetrips, die Kulturangebote, der Last-Minute-Flug nach Istanbul, die zauberhaften Weltuntergänge am Bosporus, aber auch die Oper in Verona, alles inklusive, früher einhundertzwanzig Euro, jetzt die Hälfte, Getränke sind mitzubringen.“

Oder er sinniert über den Zerfall Europas:

„Meine geliebte Türkei, Sehnsuchtsland meiner Jugend, wurde von einem Faschisten beherrscht, der tatsächlich, ohne mit der Wimper zu zucken, mehr als hunderttausend Andersdenkende ins Gefängnis warf; die Polen hatten sich einen patriotischen Giftzwerg als Chef gewählt, der seine Gegner im Parlament als Mörder seines Bruders bezichtigte, ohne dafür vor Gericht gestellt zu werden…“.

Dabei hat er jahrzehntelang mit seinem Job als sogenannter Motivationscoach selbst zum Zeitgeist gehört. Sein phrasenreiches Hauptwerk „Stärken stärken, Schwächen schwächen“ machte ihn zu einem gefragten Vortragsredner und Berater für mittelständische Unternehmen. Jetzt ist er ein alter, einsamer Mann ohne Geldsorgen, der seine bisherigen Thesen verachtet. Scheinbar nur aus Langeweile nimmt er noch gelegentlich Aufträge an. Bei einer dieser Reisen begegnet er Jara. Während er im Zug eingeschlafen ist, hat sich das Kind, welches auf ihn wie „eine eigentümliche Mischung aus Kobold und Fee“ wirkt, an seine Schulter geschmiegt. Von da an begleitet Jara ihn. Er nimmt sie, ein Flüchtlingskind, mit nach Hause und kümmert sich fürsorglich um sie. Allerdings verweigert das rätselhafte Mädchen konsequent jede Auskunft über seine Herkunft und Familie. Tagelang zeichnet sie seltsame Chiffren, die der altkluge Nachbarsjunge als „Atlas der verborgenen Erinnerungen“ betitelt. Dabei wirkt sie nicht bemitleidenswert, eher eigenwillig und autark. Scheinbar im Vorübergehen berühren sich in dieser zart und etwas wehmütig erzählten Geschichte zwei Fremde.

„Das ist mit Leichtigkeit und Eleganz entwickelt, mit Humor, der durchaus wütend, doch nie zynisch ist.“ (Carsten Hueck, DLF)

Michael Krüger war viele Jahre Chef des Hanser-Verlages und ist Autor mehrerer Gedichtbände, Romane und Übersetzungen. Für sein schriftstellerisches Werk wurde er vielfach geehrt. So erhielt er u.a. den Peter-Huchel-Preis (1986), den Joseph-Breitbach-Preis (2010), sowie den Eichendorff-Literaturpreis (2017).

Michael Krüger als Verfasser, Herausgeber oder Übersetzer in unserem Online-Katalog.
Unser Literaturverzeichnis als PDF: Krueger

Carsten Hueck hat den Roman für Deutschlandfunk Kultur besprochen, kann man hier nachlesen. Eine Rezension von Julia Schröder in der ZEIT findet sich hier.

Mittwoch, 9. Oktober, 20 Uhr
Stadtbibliothek, Neumarkt 1
Einlass: 19.30 Uhr, Beginn: 20.00 Uhr
Moderation: Angelika Teller
Musikalische Begleitung: Henning Rice, Flügel und Ismail Özgentürk, Saxophon
Eintrittspreis: 8,– €, ermäßigt 6,– €, Dauerkarte 50,– €

María Cecilia Barbetta: Nachtleuchten

Literaturtage Bielefeld 2019: Wir lesen laut!

„Als litte die Motorisierte an einer Wahrnehmungsstörung, las sie anstelle von
Ausfahrt freihalten
    Freiheit aushalten…“

Terezia ist Klosterschülerin, ein 12-jähriges Mädchen, das mit einer fluoreszierenden Madonnen-Figur von Tür zu Tür geht, um die Kirche zu den Menschen zu bringen.

Es gehe ihr, so äußert sich die Autorin in der FAZ, um die einfachen Menschen:

„die liegen mir am Herzen, die kenne ich gut.“

Mit der Madonna auf Wanderschaft lernen wir einen schwulen Friseur des Salons „Ewige Schönheit“ kennen, einen Zeitungsverkäufer und die Mechaniker der Autowerkstadt „Autopia“. Die großen Helden oder die großen Verbrecher der argentinischen Geschichte stünden nicht im Zentrum der Geschichte, sondern die Atmosphäre dieser Jahre – die leisen Zwischentöne. Geschildert werden diese mit erstaunlichem Sprachwitz, typografischen Elementen und einer aus der Kinderperspektive herrührenden Unbeschwertheit.
Trotzdem ist es eine präzise Momentaufnahme Argentiniens 1975, eines Landes, kurz bevor die Gräueltaten der Militärdiktatur stattfinden, und das von aufkommenden Ängsten geprägt ist.

María Cecilia Barbetta, 1972 in Buenos Aires geboren, wuchs in dem dortigen Einwandererviertel Ballester auf, dem Handlungsort des Romans. Als Studentin zog sie nach Berlin, wo sie bis heute lebt. Die Autorin schreibt ein enorm variantenreiches Deutsch, schildert feinste Beobachtungen mit ungewöhnlichen Wendungen. »Nachtleuchten« wurde mit dem Alfred-Döblin-Preis geehrt, stand auf der Shortlist für den Deutschen Buchpreis und war Spitzentitel der SWR-Bestenliste. Bereits ihr erster Roman, »Änderungsschneiderei Los Milagros«, war ein großer Erfolg bei der Kritik und beim Publikum.

Die Katalogdaten zu ihren Werken im Bestand der Standbibliothek findet Ihr hier.
Wer lieber unser Literaturverzeichnis ausdrucken möchte: PDF Barbetta

Wer auf sein Kind in sich höre, werde mit diesem Roman großen Spaß haben, verspricht Tobias Lehmkuhl in der ZEIT.
Das Interview in der Sendung Lesart im Deutschlandfunk Kultur kann man zwar leider nicht mehr hören, aber noch nachlesen hier.

Montag, 7. Oktober, 20 Uhr
Stadtbibliothek, Neumarkt 1
Einlass: 19.30 Uhr, Beginn: 20.00 Uhr
Moderation: Dr. Jochen Rath
Musikalische Begleitung: Harald Kießlich, Akkordeon/Bandoneon
Eintrittspreis: 8,– €, ermäßigt 6,– €, Dauerkarte 50,– €

In Kooperation mit dem Verein der Freunde und
Förderer der Stadtbibliothek Bielefeld e.V.