Das Buch heißt Herbst, das klingt jetzt nicht nach einer passenden Sommerlektüre. Um es gleich vorweg zu nehmen: Der Roman passt zu jeder Jahreszeit!
Mit dem titelgebenden Herbst ist hauptsächlich der des Jahres 2016 gemeint, in Großbritannien kurz nach dem Volksentscheid zum Brexit – ein gespaltenes Land. Eine düstere Stimmung hängt über allem; die eine Hälfte des Dorfes spricht nicht mit der anderen. Die Sprachlosigkeit hat viele Facetten und Gründe, die viel weiter reichen als nur zum EU-Streit und dem alltäglichen Rassismus. Ali Smith verwendet viele Bilder für Ausgrenzung und Abschottung und setzt ihre zwei Hauptfiguren dagegen: ein bemerkenswertes Paar.
Der Roman beginnt mit einer surrealen Szene aus der Zwischenwelt von Leben und Tod: Ist der Mann, der gerade an die Küste angespült wird, nun ein Geist, der sich erst in seine neue Rolle finden muss oder ist alles nur ein Traum? Der Leser bleibt vorerst im Unklaren, der lebende Tote bedeckt sich mit einem selbst genähten Mantel aus grünen Blättern und entschwindet in die Natur.
Die eigentliche Hauptfigur ist die Kunsthistorikerin Elisabeth, die mit dem Alltag, der Bürokratie, ihrer Mutter oder mit der Borniertheit anderer Mitmenschen ringt. Sie erinnert sich zurück an ihre Kindheit, wo der alte Nachbar zu einer Art Mentor für sie wurde; mit seinen Erzählungen und seinen herausfordernden Spielen hat er das aufgeweckte Mädchen an Kunst und an Literatur herangeführt. Er hat sie ermutigt, selbständig zu denken und Klischees zu hinterfragen. Jetzt besucht sie den inzwischen hundertjährigen Daniel im Pflegeheim und liest ihm vor, obwohl er schläft – und wahrscheinlich nicht mehr aufwachen wird. Selbst im Alltag hält Elisabeth innere Monologe, die an ihren alten Freund gerichtet sind.
Und so springen wir ein wenig durch die Zeit, durch Träume und Alpträume, durch die Bilder einer fast unbekannten Pop-Art-Künstlerin (Pauline Boty) und durch große Werke der Weltliteratur (z. B. Shakespeares Sturm, Ovids Metamorphosen). Und während die Menschen um Elisabeth und den sterbend-träumenden Daniel herum jede Kleinigkeit zum Kleinkrieg aufbauschen, lässt Elisabeth sich faszinieren von den Wildblumen am Wegesrand oder den Farben des Spätsommers.
Das ist mal poetisch, mal groteske Realsatire. Ali Smith setzt das wunderbar in Sprache um: Manchmal reiht sie einfache Aussagesätze aneinander, und dann wieder malt sie mit Worten Bildcollagen oder spinnt einen langen Gedanken-Faden-Satz voller Assoziationen. Ihr Sprachwitz und ihre Metaphern sind originell, und trotz der Zeitsprünge und den vielen Andeutungen und gesellschaftspolitischen Bezügen zum Zeitgeschehen ist der Roman erstaunlich leicht. Und er ist kein „Brexit-Roman“, wie der Klappentext vermuten lässt.
Ich kannte die britische Autorin bisher nur dem Namen nach. Herbst ist nicht ihr erster ins Deutsche übersetzte Roman (übrigens wird die Übersetzung von Silvia Morawetz von den Kritikern sehr gelobt). Während Ali Smith in Großbritannien schon viele renommierte Literaturpreise gewonnen hat und gleich mehrfach auf der Shortlist zum Booker Prize stand (u.a. auch für Autumn 2017), ist sie im deutschsprachigen Raum noch zu entdecken. Herbst stand immerhin auf der SWR-Bestenliste unter den 10 meist empfohlenen Neuerscheinungen.
Katalogdaten zum Roman „Herbst“ von Ali Smith, gebunden und eBook, hier.
Für den November 2020 ist die Übersetzung des zweiten Teils des Jahreszeiten-Zyklus der Autorin angekündigt: Winter. Zack, habe ich schon den ersten Wunsch auf der Liste für den Weihnachtsmann 😉
HilDa
2 Gedanken zu “Buchtipp: Herbst”