Systemrelevant? Echt jetzt?

Zu Beginn des letzten Jahres sah es für kurze Zeit so aus, als würde mit dem Begriff „systemrelevant“ endlich das Augenmerk auch mal auf die Menschen gelenkt, die mit ihrer Arbeit so viel für unser Gemeinwohl und das Funktionieren unseres Alltags tun – oft nur gering entlohnt oder gar unbezahlt. Aber längst wird der Begriff inflationär gebraucht und nahezu jeder beansprucht diese Zuschreibung für sich, seine Berufsgruppe oder seinen gesellschaftlichen Beitrag. Und bei der Frage, wer oder was ist denn nun relevanter, scheiden sich erst recht die Geister.

Sollten wir da nicht einmal fragen: relevant okay, aber in welchem System? In welchem Zusammenhang?

Ich erinnere mich an eine Übung bei einem Seminar vor etlichen Jahren. Wir sollten uns einen Astronauten vorstellen, der mit seinem Raumschiff auf einem fremden Planeten notlanden musste. Hilfe kann erst in einigen Wochen kommen. Es gibt da aber eine verlassene, noch funktionierende Versorgungsstation mit allem, was er für die nächsten Wochen benötigt – nur leider drei Tagesmärsche entfernt. Er muss jetzt aus seinem defekten Raumschiff die wichtigsten Sachen mitnehmen, die sein Überleben bei diesem Marsch ermöglichen. Unsere Aufgabe: Wir sollten eine Liste erstellen, 40 Dinge waren vorgegeben, die mussten nach der Relevanz sortiert und von 1 – 40 durchnummeriert werden.

In unserem Team brach schon gleich über die Position 1 Streit aus. Trinkwasser sei eindeutig das Wichtigste überhaupt, so lernt man es z. B. bei der Bundeswehr; ja selbst mit normalem Schulwissen ist doch klar: Ohne Wasser überlebt man keine drei Tage, bei körperlicher Anstrengung sogar deutlich weniger. Dagegen wirkten die sperrigen Sauerstoffflaschen erst einmal überflüssig, damit sollte der Astronaut lieber nicht belastet werden, schließlich waren sie fast das Schwerste auf unserer Liste.

Wie lange überlebt man noch mal ohne Sauerstoff?

Nirgendwo in der Testbeschreibung stand, dass es auf diesem Planeten atembare Luft gäbe. Allerdings stand da auch ebenso wenig das Gegenteil. Mit unserer normalen Raumschiff-Enterprise-Erfahrung gingen einige also zunächst einmal von letzterem aus. Luft ist doch normal!

Outdoor-Wasserflaschen

Aber Moment mal: Notlandung, fremder Planet! Ist nicht die Erde mit ihrer Sauerstoff-Stickstoff-Atmosphäre ganz einmalig? Zumindest ist bisher kein anderer auch nur annähernd ähnlicher Himmelskörper bekannt. Außer natürlich bei Raumschiff Enterprise und Co. Das brachte aber die Trinkwasser-Fraktion nicht ins Wanken. Da stehe nicht ausdrücklich „toxische Atmosphäre“, also könnten wir getrost davon ausgehen, dass dieser fremde Planet erdähnlich sei.

Nur wenn wir uns irrten, wäre unser Astronaut schon nach Sekunden bewusstlos und in drei Minuten tot. Tja, aber zumindest mit ausreichend Wasser für die nächsten Tage auf dem Rücken.

Den Ausschlag in unserer Diskussion gab dann, dass ich von einem ähnlichen Test schon mal gelesen hatte, ich konnte mich an die ersten beiden Positionen noch sehr gut erinnern: Sauerstoffflaschen! Und dann Trinkwasser. So kam in unserem Team dann doch eine Mehrheit für diese Reihenfolge zusammen, allerdings nur erstaunlich knapp und immer noch unter Protest einiger lautstarker Mitglieder; es war durchaus schwer, sich gegen sie durchzusetzen. Mein Wissen wurde angezweifelt: Ähnlicher Test, aber nicht exakt der gleiche; und an die anderen Positionen konnte ich mich ja nicht mal erinnern, da stimmte wohl etwas mit meinem Gedächtnis nicht; auch fehlten die Beweise, denn blöderweise hatte ich den zufällig in der Bibliothek gelesenen Zeitschriftenartikel ja nicht dabei.

Selbst als dann am Ende das offizielle Ergebnis unser Ranking mit Sauerstoff auf Platz Eins bestätigte, wurde gemurrt: unfaires Szenario, die Informationen waren unvollständig, die Aufgabe nur mit Insiderwissen zu lösen; man selbst hatte aber doch anderes gelernt und was bisher immer richtig war, könne doch jetzt nicht plötzlich falsch sein. Und überhaupt, ohne Trinkwasser wäre der blöde Astronaut dann eben später gestorben. Die Seminarleiter mussten die Diskussion, die auch nach der Bekanntgabe des Ergebnisses noch heftig weiterging, endlich abbrechen. Im Leben sei das eben manchmal so, dass man Entscheidungen treffen müsse, ohne vollständige Informationen zu haben. Und ja, das Leben ist unfair.
Ach.

Manchmal trifft man falsche Entscheidungen und hat mit dem derzeitigen Kenntnisstand sogar gute Gründe dafür. In unserem Fall hätte das zwar tödliche Folgen für den von uns betreuten Astronauten gehabt – zum Glück für ihn war er ja nur fiktiv.

Wenn sich plötzlich die Verhältnisse ändern, können die bisherigen Erfahrungen und Intuitionen in die Irre führen. Die Gefahr für eine Fehlentscheidung ist größer, wenn nur ein Einzelner entscheidet. Besser ist ein Team, das unterschiedliche Kenntnisse und Erfahrungen einbringt, sich bespricht und abstimmt. Wichtig ist dabei die Kommunikation innerhalb des Teams, der Respekt vor dem Wissen anderer, das Zuhören und Abwägen miteinander.

Die Diskussion muss aber auch irgendwann zu einem Ergebnis führen, vor allem, wenn die Zeit drängt. Die Verantwortung für die Konsequenzen tragen alle gemeinsam. Weder ein besserwisserisches „Ich hab‘s ja gleich gesagt“ noch ein kleinlautes „Hätten wir doch …“ könnte das Leben des Astronauten im Nachhinein wieder zurückholen. Aber aus Angst vor einer Fehlentscheidung lieber gar nichts machen, hilft eben auch nicht.
Tja, nachher weiß es dann natürlich jeder besser.

Bei unserem Seminar ging es gar nicht um die eine perfekte Lösung. Die Seminarleiterinnen wollten nur unsere Art der Entscheidungsfindung beobachten. Mir ist in Erinnerung geblieben, wie schwer es ist, sich gegen vermeintlich sicheres Wissen durchzusetzen, zumal wenn dieses vehement und lautstark vertreten wird.

Übrigens gab es einige Positionen in dem Übungsergebnis, die ich auch fragwürdig fand. Warum stand das Familienfoto, das für den Astronauten sicherlich eine stark motivierende Bedeutung haben konnte, ganz weit hinten im Ranking, obwohl es doch kaum Platz oder Gewicht beanspruchte? Solche Herzens-Gegenstände können eine ganz eigene Relevanz entwickeln, die selbst der Astronaut nicht vorhergesagt hätte; aber er hätte spontan sicher anders entschieden als die Wissenschaftler und Ingenieurinnen im Controlcenter auf der Erde.

Und dann waren da noch einige Gegenstände auf der Liste, die völlig unsinnig für seinen gefährlichen Marsch erschienen – aber aus diesen Einzelteilen ließ sich mit etwas Geschick und Können ein Handkarren oder Schlitten bauen, der es wiederum erlaubte, noch mehr überlebenswichtige Gegenstände mitzunehmen. Muss man nur erst einmal drauf kommen: Um-die-Ecke-Denken, Improvisation und Kreativität sind für einen Lösungsansatz womöglich genauso wichtig wie Wissen.

In den letzten Monaten musste ich oft an diesen einsamen Astronauten und unsere Entscheidungen für ihn denken. Wenn uns unsere bisherigen Erfahrungen kaum weiterhelfen? Wenn wir sogar darüber streiten, was denn nun das Lebensnotwendigste in einer Krisensituation ist? Wie soll dann noch geklärt werden, was für jeden persönlich gerade besonders wichtig ist, z. B. weil er Ermutigung und Trost braucht.

Bei Mark Watney in „Der Marsianer“ waren es ja auch nicht nur die Vorräte und die selbst angebauten Kartoffeln, die ihn über Monate am Leben hielten. Die einzige Musik, die ihm zur Verfügung stand, war so gar nicht nach seinem Geschmack, aber sie beflügelte und ermutigte ihn trotzdem in seiner monatelangen Einsamkeit, und letztlich half auch sie ihm, das fast Unmögliche zu schaffen und allein auf dem Mars zu überleben. (Film und Buch wirken fast, als wären sie aus „unserem“ Test-Szenario entstanden 😉 .) Den empfehlenswerten SF-Roman hatten wir übrigens schon mal im Blog vorgestellt.

Die eine perfekte Lösung kann es gar nicht geben. Es ist schon schwer genug, für das Wohl eines Astronauten, äh, einer Person zu entscheiden. Für viele Personen oder gar für eine ganze Gesellschaft kann eine Festlegung, egal wie und von wem sie getroffen wird, einfach nicht tadellos gelingen. Wir könnten ewig diskutieren und streiten, wir könnten noch so viel Fach- und Expertenwissen einfordern – aber auch das hätte Konsequenzen, wenn darüber die Zeit davonläuft. Und je komplexer die Zusammenhänge, die dabei bedacht werden müssen, desto unmöglicher ist es, allem und jedem gerecht zu werden. Binsenweisheit.

Noch einmal zurück zum Anfang und dem Fragezeichen in der Überschrift. Der Begriff der Systemrelevanz funktioniert höchstens, wenn der Rahmen, innerhalb dessen er wirken soll, klar definiert ist. So ohne Zusammenhang dahin geworfen, halte ich ihn schlicht für ein aufgeblasenes Modewort. (Dass der Begriff ursprünglich nur im Zusammenhang von Bankenkrisen und Insolvenzen von Großunternehmen gebraucht wurde, macht ihn mir auch nicht sympathischer; siehe hier).

Unsere komplexe arbeitsteilige Gesellschaft funktioniert tatsächlich nur, wenn viele Dienste und Arbeiten ineinandergreifen, da ist viel mehr relevant, als wir bisher in unserem Alltag wahrgenommen haben. Wenn uns der Lockdown dafür die Augen geöffnet hätte, wäre das ja schon ein Gewinn.

Natürlich habe ich diesen überlangen Artikel nicht geschrieben, um jetzt ausgerechnet meine Profession und Öffentliche Bibliotheken allgemein für absolut systemrelevant zu erklären oder um das Lesen als „so wichtig wie die Luft zum Atmen“ zu bewerten. Das wäre doch wohl vermessen! Für den langen Marsch über die lebensfeindliche Planetenoberfläche hätte ich auf mein Lieblingsbuch verzichtet und lieber eine zusätzliche Sauerstoffflasche geschleppt!

Aber für die lange Einsamkeit in der Raumstation hätte ich dann doch gerne den Zugriff auf eine umfangreiche Datenbank voller Wissen und Ideen, auf Literatur, Musik, Filme, Theater- und Opernaufzeichnungen, Konzerte …

Und dass ich damals für unser Astronauten-Szenario den entscheidenden Hinweis einbringen konnte, weil ich zufällig in einer Zeitschrift aus unserer Bibliothek davon gelesen hatte, habe ich doch auch irgendwie geschickt mit einfließen lassen, oder?  🙂

Ebenso wie die auf den Fotos eingeschmuggelten Buchtipps unseres kleinen Astronauten, die ja eigentlich gar nichts mit dem Thema zu tun haben; aber man weiß ja nie, wann sie in irgendeinem Zusammenhang mal relevant werden könnten 😉 :

Ach, habt einfach viel Freude beim Lesen.

HilDa

 

 

 

 

Ein Gedanke zu “Systemrelevant? Echt jetzt?

  1. Nicole Kirchdorfer schreibt:

    Was für interessante Gedankenspiele. Dazu fällt mir thematisch irgendwie noch ein bisschen Boyle ein / Die Terranauten…
    Irgendwer muss immer den Hut auf haben. Ob richtig, oder falsch…Entscheidungen müssen getroffen werden…

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