Die britische Schriftstellerin Ali Smith schreibt eine Jahreszeiten-Reihe, „Winter“ ist nach „Herbst“ (2019) der zweite Band, der ins Deutsche übersetzt wurde. „Frühling“ und „Sommer“ werden demnächst folgen. „Herbst“ hatte mich fasziniert (hier der Blogbeitrag), da war ich natürlich gespannt auf den neuen Band.
Man kann die Bücher unabhängig voneinander lesen. Aber der Vergleich ist natürlich reizvoll. Auch „Winter“ beginnt mit einer surreal wirkenden Szene: Eine Frau sieht einen Kopf durch ihr Haus schweben, Kopf und Schultern eines Kindes, aber kein Torso, keine Gliedmaßen; er spricht nicht, bleibt aber hartnäckig in ihrer Nähe. Danach folgt eine Szene, die auch wieder als Realsatire auf unsere moderne Zeiten gelesen werden kann: Waren es in „Herbst“ die Stolpersteine, die die Bürokratie ihren Bürgern zumutet, so ist es in „Winter“ der Service bzw. Nichtservice einer Bank. Obwohl die Dame im reifen Alter als ehemalige Geschäftsfrau und gute Kundin des Geldinstituts sogar für Extraservice bezahlt hat, wird sie auf die automatisierte Selbstbedienung verwiesen; der junge, arrogante Angestellte will beim „Servicegespräch“ nur überflüssige Versicherungen verkaufen, doch eine einfache Bargeldauszahlung – und mehr möchte die Kundin gar nicht – macht er nicht möglich.
Ali Smith schreibt einen Gegenwartsroman, in dem die Zeitgeschichte aber nicht nur satirischer oder surrealer Hintergrund ist. Da sind die Einwanderer, die ihre Nische in einem fremdenfeindlichen Land suchen, das sie als billige Arbeitskräfte ausnutzen, ansonsten aber am liebsten übersehen will, sie sollen unsichtbar bleiben oder werden hinausgeworfen (sogar aus der Bibliothek 😦 ). Da ist die leidige Brexit-Diskussion. Vor allem aber geht es in Rückblenden immer wieder zurück in die wilden Jugendjahre von Sophia und ihrer Schwester Iris. Letztere ist Aktivistin auf Demonstrationen gegen die atomare Aufrüstung, gegen Umweltzerstörung und die Ungerechtigkeiten in der Welt. Sophia dagegen hat sich ein erfolgreiches Geschäft aufgebaut und verkauft Leuten mit zu viel Geld überteuerten Design-Schnickschnack. (Auch in „Herbst“ kommt eine Mutter vor, sie ist Fan einer Antiquitäten-Show im Fernsehen und wünscht sich all diesen Schnickschnack.)
In der Rahmenhandlung des Romans fährt Arthur (Art) aus London, ein Blogger, der sich als Intellektueller versteht, nach langer Zeit mal wieder zu seiner Mutter Sophia ins ländliche Cornwall. Er hadert mit der Trennung von seiner Freundin und heuert spontan eine unbekannte junge Frau an, die er seiner Mutter unter dem Namen seiner Freundin vorstellen möchte. Doch sie finden Sophia verwirrt vor, das Haus ist kalt und so gar nicht für Besuch und die Weihnachtstage bereit. Es ist ausgerechnet die junge Frau von der Straße mit den vielen Piercings und dem fremden Akzent, die sich erwachsener und verantwortungsvoller benimmt als Art, der Sohn. Und es ist ausgerechnet Iris, die ewige Rebellin, die das seltsame Familienwochenende komplettiert. Sie kommt sofort, um zu helfen, obwohl ihre Schwester seit vielen Jahren nicht mehr mit ihr geredet hat. Vier Menschen, die einander fremd sind, auch und gerade die drei Familienmitglieder. In einem Haus, das für diese drei eine Vergangenheit hat, die dem einen völlig unbekannt ist, für die beiden anderen aber voller verdrängter, geleugneter oder erlogener Erinnerungen.
Das ist alles andere als ein seliges Weihnachtsfest im Kreis der Familie; diese Familie redet ja nicht miteinander, geht sich seit vielen Jahren erfolgreich aus dem Weg. Doch plötzlich verwirren seltsame Visionen. Die Zeitsprünge, Erinnerungen und Perspektivwechsel machen es aber auch dem Leser nicht einfach. Ali Smith lässt sogar die Zeit stillstehen, die Kirchenglocke schlägt Mitternacht – wieder und wieder.
Der Winter ist nicht mehr so, wie er früher war: das Klima erwärmt sich, doch das Zwischenmenschliche wird kälter. Wenn da nicht noch die Fremde wäre, die die Freundin von Art spielen soll (was sie aber schnell gegenüber Sophia eingesteht), die eigentlich nirgendwo dazu gehört, die durch eine Lüge ins Haus kommt und doch die Wahrhaftigste von allen ist. Sie nennt sich Lux.
Wie in „Herbst“ gibt es auch in diesem Roman viele literarische Anspielungen zu entdecken, vor allem natürlich auf Dickens und Shakespeare. Ali Smiths Sprache hat Rhythmus, ihre Dialoge sind bissig. „Herbst“ fand ich poetischer. Aber „Winter“ muss ich ja allein schon für die Bibliotheks-Szene mögen (obwohl: „Triggerwarnung“, liebe Kolleginnen und Bibliotheksfreunde, sie ist nicht unbedingt schmeichelhaft für unsere Zunft).
Wie „Herbst“ wurde auch „Winter“ von den Literaturkritikern auf die SWR-Bestenliste gewählt als eine der empfehlenswertesten Neuerscheinungen. Ausdrücklich wird auch die Übersetzerin Silvia Morawetz gelobt.
Den Roman findet Ihr sowohl in der Papierausgabe wie auch als eBook hier.
HilDa