Vorlesetipp: Lappland

Gerne sei dieser prächtige Bildband allen empfohlen, die Naturfotografie und die fantastische Landschaft im hohen Norden Europas lieben. Aber ein Buch über das Naturparadies Lappland als Vorlesetipp? Nun, dazu wurde es durch meine Besuche bei einem älteren Herrn. Früher ist er viel gereist, besonders gerne in die skandinavischen Länder und nach Finnland, allein oder zu zweit, meist auf eigene Faust mit seinem Bulli. Heute sind seine Erinnerungen etwas verwirrt. Aber wenn er erzählt, ist es doch egal, ob seine großartigen Abenteuer wirklich erlebt oder Phantasie sind, er erzählt gerne über seine Reisen, nur das ist wichtig.

Der Bildband war ein Geschenk seiner Kinder. Damals war er wohl nicht wirklich interessiert an dem Buch, schön, ja, aber es taugte weniger zur Vorbereitung der nächsten Reise und Fotos hatte er selbst genug gemacht. Das Buch wanderte ins Regal.

Wenn er heute gemeinsam mit seiner Tochter in dem Buch blättert, glaubt er alles auf den Bildern wiederzukennen: Jaja, da sei er überall gewesen. Wenn man an diesem Felsen rechts vorbei gehe, so erzählt er voller Überzeugung, könne man das Meer sehen. Und als er bei dem Foto eines Adlers zwei ineinander verschränkte Greifvögel zu erkennen glaubt, wischt er den geäußerten Zweifel mit den Worten fort: „Ich muss es doch wissen, ich habe das Foto ja schließlich gemacht!“ Die Personen auf den Bildern am Ende des Buches kennt er natürlich persönlich, ihm fallen nur die Namen gerade nicht ein.

Und dann erzählt er von langen Wanderungen an der norwegischen Küste entlang, Übernachtungen unter freiem Himmel, den drei Elchen, die beim Aufwachen neben ihm gelegen hätten. Er fährt mit dem Finger über die Landkarte, um den Weg nachzuzeichnen.

Beim etwas hektischen Hin-und-Her-Blättern in dem Buch kommt er natürlich immer wieder auf die selben Bilder und Karten – nur seine Geschichten sind dann plötzlich ganz andere.

Ab und zu tippt er mit dem Finger auf einen Bilduntertitel; weil er gerade keine Brille aufsetzen mag („Ich brauch‘ keine Brille!“), soll die Tochter kurz vorlesen. Dann irritiert ihn der Text vielleicht für einen kurzen Moment (Aha, das ist also doch nur ein Adler? Ja klar, eine optische Täuschung eben!). Aber meist nickt er wissend. Er akzeptiert auch, dass die Menschen auf den Fotos am Ende Fotografin und Autor des Buches sind und sicher keine Reisebekanntschaften.

Ach, er würde so gerne noch einmal dort hoch fahren und alles wieder selbst sehen und erleben.

Fotos oder eben auch so ein Bildband können wunderbar helfen, einen Menschen mit Demenz zum Erzählen zu bringen. Es geht hier nicht um das Vorlesen im eigentlichen Sinn des Wortes, vielmehr soll ein Anlass zum aktiven Erzählen geboten werden. Das gemeinsame Lesen der Texte kann das unterstützen, die Bilder sind aber der entscheidende Ansatz. Es reicht, wenn man ein Buch auswählt, das den Interessen des alten Herrn entspricht und Erinnerungen wecken kann.

Ausschnitt aus dem Regal „Schaufenster Bielefeld“ des Stadtarchivs

Das kann z. B. auch ein Fotoband über die alte Heimatstadt sein (zum alten Bielefeld und seinen Stadtteilen, aber auch zu anderen Städten und Gemeinden in der Region findet man viel in der Landesgeschichtlichen Bibliothek des Stadtarchivs, ausleihbar mit der Bibliothekskarte). Gerade die Erinnerungen aus Kindheit und Jugend sind bei Menschen mit Demenz noch sehr präsent, sie erkennen die Orte auf den alten Bildern, erzählen über eigene Erlebnisse oder Spielgefährten aus der Vergangenheit, sie wissen, was im Krieg zerstört wurde, wo welches Geschäft war …

Oder man nimmt ein Buch über irgendein Interessengebiet des alten Herrn: VW-Bullis, die Länder, durch die er einst gereist ist, das Handwerk, das er als junger Mann erlernt hat – darüber gibt es Bücher mit Fotos und Zeichnungen, erzählen kann er dann selbst.

Dabei darf man nicht unbedingt eine lineare, wahrhaftige Geschichte erwarten. Man kann schon mal vorsichtig nachfragen, sollte aber möglichst nicht viel korrigieren, egal welche Sprünge der Erzähler macht und wie unglaubwürdig seine Reiseerlebnisse auch werden. Wenn er auf dem Bild einen zweiten Adlerkopf sieht, dann ist das eben so. Wenn er auf seinen Reisen so nebenbei und schon nach wenigen Wochen die Sprache der Samen gelernt haben will, dann ist das eben so. Wenn er ganz allein vom Nordkap bis nach Spanien, zu Fuß! – na, dann lassen wir ihn doch einfach weiter fabulieren.

Und wenn er dann das Buch zuklappt und mit einem zufriedenen Seufzer erklärt, dass er dieses Buch liebe und immer wieder gern darin blättere, dass es nicht zurück ins Regal, sondern für ihn griffbereit liegen solle, ja dann freut sich auch die Tochter, die es ihm einst geschenkt hatte. War also doch genau das richtige.

Die Daten zum National-Geographic-Bildband „Lappland: das Alaska Europas“ von Erlend Haarberg und Orsolya Haarberg findet Ihr hier.

HilDa

Kommentar verfassen

Trage deine Daten unten ein oder klicke ein Icon um dich einzuloggen:

WordPress.com-Logo

Du kommentierst mit Deinem WordPress.com-Konto. Abmelden /  Ändern )

Twitter-Bild

Du kommentierst mit Deinem Twitter-Konto. Abmelden /  Ändern )

Facebook-Foto

Du kommentierst mit Deinem Facebook-Konto. Abmelden /  Ändern )

Verbinde mit %s