Buchtipp: Louise Erdrich

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USA

In meiner Jugend habe ich gerne Abenteuerliteratur gelesen. Ja, ich war Karl-May-Fan. Geblieben ist ein Interesse an indigenen Völkern und ihren Geschichten; ich lese ab und zu gern literarische Werke von Schriftsteller*innen aus den Kulturen selbst. Richard Wagamese habe ich hier bereits zweimal vorgestellt (Das weite Herz des Landes, Der gefrorene Himmel). Jetzt wird es Zeit, über Louise Erdrich zu sprechen. Ein Buch von ihr hatten wir schon mal im Blog (Ein Lied für die Geister).

Als ich im letzten Frühjahr Der Nachtwächter beim Buchhändler meines Vertrauens kaufte, rief der an der Kasse verzückt: „Ah, Erdrich, unsere Lieblingsschriftstellerin!“. Bisher hatte ich immer das Gefühl, niemand in meinem durchaus belesenen Umfeld kennt die amerikanische Autorin. Und jetzt diese enthusiastische Empfehlung nicht nur für das aktuelle Buch, sondern das Gesamtwerk! Nun, ein Punkt mehr für meine Lieblingsbuchhandlung. 😉

Roman "Der Nachtwächter" von Louise Erdrich. Aufbau-Verlag

Der Nachtwächter stand kurz darauf auf der SWR-Bestenliste, Literaturkritik und Feuilleton sind voll des Lobes. Und dann erhielt der Roman 2021 auch noch den Pulitzerpreis. Trotzdem bleibt Louise Erdrich hierzulande wohl sowas wie ein Geheimtipp.

So hat 2019 die ARD mit großem Aufwand den Roman The Master Butchers Singing Club verfilmt, ein Zweiteiler, von dem man sich offenbar viel versprochen hatte: Der Club der singenden Metzger. Nun, in der etwas verdrucksten Werbung zum Film kamen die literarische Vorlage und der Name der Autorin fast gar nicht vor. Wobei ich zu der Verfilmung selbst nichts weiter sagen kann, die habe ich nämlich verpasst. Aber ich könnte mir vorstellen, dass viele Zuschauer nach der Ankündigung eines Historiendramas rund um deutsche Auswanderer in den amerikanischen Westen so etwas wie eine Wild-West-Romanze erwartet hatten. Hm, der Filmkritik entnehme ich, dass es ganz so schlicht wohl nicht ist. Schaut selbst, wir haben die DVD. Und den Roman natürlich auch (englisch und deutsch): hier.

2 Romanausgaben und DVD der Verfilmung: "Der Club der singenden Metzger"

Bei meinem ersten Roman von der Autorin vor vielen Jahren hatte ich auch etwas ganz anderes erwartet und die Lektüre nach den ersten Seiten wieder abgebrochen. Mein zweiter Versuch traf dann aber genau meinen Geschmack, obwohl auch Die Krone des Kolumbus so ganz anders war. Der Roman erschien 1991 passend zum Kolumbus-Jahr und den 500-Jahr-Feiern zur „Entdeckung“ Amerikas – aber Louise Erdrich und ihr damaliger Ehemann Michael Dorris hatten einen Gegenentwurf zur US-patriotischen Feierstimmung im Sinn. Ihre Protagonisten haben wie sie indigene Wurzeln und sind Intellektuelle, die das Leid der amerikanischen Urbevölkerung als Folge des Rassismus der Eroberer und des europäischen Kolonialismus herausstellen wollen.

Zum Inhalt: Während ihr Geliebter an einem Epos schreibt, stößt die Halb-Indianerin Vivian zufällig in einer Bibliothek auf ein mysteriöses Manuskript aus der Zeit des Kolumbus, in dem von einem kostbaren Geschenk an den König des „indischen“ Heidenvolkes die Rede ist. Es beginnt eine Schatzsuche mit allem, was in Indianer-Jones-Manier dazu gehört, nur dass hier eine zerstrittene Familie im Wettlauf mit Verbrechern und Geschichtsverdrehern nach dem Geheimnis und der historischen Wahrheit sucht, Ehestreitigkeiten, Generationskonflikt und Teenager-Krisen inklusive, mal witzig, mal hochliterarisch und politisch, mal spannend wie ein Thriller. Mir gefiel die krude Mischung damals. An einigen Stellen könnte der Roman heute allerdings schon etwas angestaubt wirken (über Milli Vanilli lacht heute niemand mehr, oder).

Roman "Die Krone des Kolumbus" von Michael Dorris und Louise Erdrich. Rowohlt-Verlag

Vielleicht stelle ich mal noch weitere Romane von Louise Erdrich in eigenen Blog-Artikeln vor. Aber kommen wir endlich zu meiner aktuellen Lektüre: Der Nachtwächter.

Ein bigotter Politiker will die Bewohner des Chippewa-Reservats mit einem neuen „Terminierungsgesetz“ angeblich emanzipieren – ein Euphemismus für die ewig gleiche alte Geschichte: Den Ureinwohnern soll schlicht ihr Land weggenommen, ihre Gemeinschaft aufgelöst werden. Thomas ist der Sprecher der Chippewa-Gemeinschaft, einer der wenigen Männer mit einem festen Job. Seine Nachtwachen im einzigen Fabrikgebäude des Reservats nutzt er, um die Gesetzentwürfe zu studieren und Strategien zu entwickeln. Es geht um die Zukunft des Volkes, um den Erhalt der Kultur.

Inmitten der weiß-amerikanischen Welt werden die Chippewa wie Fremde im eigenen Land behandelt. Im Reservat leben sie auf dem kargen Boden ärmlich, die meisten sind arbeitslos und abhängig von den staatlichen Leistungen, die dem Stamm zustehen. Alkohol zerstört die Familien, viele Chippewa sprechen kaum Englisch – was für eine Chance haben sie gegen die US-amerikanische Politik und Bürokratie. Auf Thomas lastet eine große Verantwortung.

Die jungen Menschen, die es in die Stadt zieht, sei es der Liebe wegen, um dort Arbeit zu finden oder weil sie an Sportwettkämpfen teilnehmen, gehen nur allzu oft verloren. Die Familie von Patrice zum Beispiel vermisst die älteste Tochter Vera. Patrice nimmt also Urlaub und wagt sich in die Stadt, wo sie bizarres und auch beängstigendes erlebt. Patrice ist die zweite Hauptfigur des Romans. Sie ist noch sehr jung, aber auch sie ist die einzige in ihrer Familie mit geregeltem Einkommen. Während sie gern mehr über Liebe und Sex erfahren möchte, scheint die vermisste Schwester bereits die schlimmsten, schier unaussprechlichen Erfahrungen gemacht zu haben. Zumindest deuten das die Träume an.

Wie immer bei Louise Erdrich sind da viele Sippen und Generationen, die miteinander in Verbindung stehen, und auch Ahnen und andere Geister mischen mit. Doch der im Wesentlichen linear erzählte Roman liest sich trotz der Perspektivwechsel leicht und klar. Auch die Selbstverständlichkeit, mit der das Magische immer wieder in die Handlung eingreift, verstört die europäische Leserin nur kurz.

Roman "Der Nachtwächter" von Louise Erdrich

Louise Erdrich hat mit diesem Roman ihrem eigenen Großvater und seinem Engagement für den Stamm und das Reservat ein Denkmal gesetzt – und uns das Denken, die Gefühle, den Alltag und einige Traditionen, aber auch die Diversität der Menschen aus dem Chippewa-Volk näher gebracht, ebenso die Tristesse und die Gemeinschaft im Reservat. Das hat so gar nichts von den hierzulande so beliebten idealisierenden, oft auch esoterisch angehauchten Naturvolk-Stereotypen.

Louise Erdrich ist zweifellos eine der ganz großen der amerikanischen Literatur. Wer sie noch nicht für sich entdeckt hat – Der Nachtwächter ist ein guter Einstieg in ihr Werk. Sowohl sprachlich als auch von seiner Struktur und Personenkonstellation her ist der Roman nicht so kompliziert wie einige andere Erzählungen der Autorin.

Große Empfehlung.

HilDa

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