Vor ca. 5000 Jahren wurde die Schrift erfunden, ein nützliches und notwendiges Instrument in erster Linie für Handel und Bürokratie. Die erste Metropole der Welt steht für diesen Wendepunkt der Menschheitsgeschichte – Uruk. Die Zeichen wurden als Keilschrift in Ton geritzt, tausende Jahre alte Tontafeln, ja ganze Bibliotheken sind bis heute erhalten und haben uns Gesetzestexte überliefert sowie Steuertabellen, Gebete und Rituale, astronomische und mathematische Berechnungen, Verträge und Testamente, aber auch ganz profane Texte wie Rezepte zum Bierbrauen oder Schreibübungen von Schülern. Und Literatur. Dichtung. Das erste Epos: die Geschichte des Gilgamesch, nur Fragment oder genauer unzählig viele Fragmente, längst noch nicht alles entziffert und übersetzt, über Jahrhunderte weitergegeben und immer wieder kopiert.
Vor einigen Jahren (2014) war ich im LWL–Museum für Archäologie in Herne in einer großen Ausstellung mit vielen Original-Artefakten, „Uruk – 5000 Jahre Megacity“ wurde zuvor im Berliner Pergamonmuseum gezeigt; seit kurzem wird eine virtuelle Aufbereitung der Ausstellung angeboten: uruk-digital. In der Kinderbibliothek findet Ihr ein Kindersachbuch zum Thema, das anlässlich der Ausstellung erschienen ist („Uruk, Keilschrift, Gilgamesch“ ). Sehr empfehlenswert auch für Erwachsene als Einführung ins Thema – für Euch getestet. 😉

Das Gilgamesch-Epos wurde Vorbild für andere Werke in vielen verschiedenen Kulturen und bis in die heutige Zeit. Raoul Schrott hat viele Verse nicht nur übersetzt, sondern daraus auch eine eigene dramatisierte Version verfasst, anspruchsvoll und kräftig in der Sprache (das Buch haben wir nicht im Bestand). Bei der langen „Nacht der Bibliotheken“ 2013 habe ich einen Ausschnitt daraus vorgetragen, die „Zähmung“ des wilden Enkidu und sein erstes Aufeinandertreffen mit dem bis dahin unbesiegbaren Gilgamesch. „Saftig!“, war der Kommentar einer Kollegin. Nun ja, das Motto der Nacht war doch auch „Deine Bibliothek – wilder als Du denkst“. 😉
Es gibt die Sagengeschichten auch als Nacherzählungen in Prosa. Und Gilgamesch ist als Figur in moderne Romane und Erzählungen eingegangen, vor allem im Genre Fantasy und in Comics/Graphic Novels. Star-Trek-Fans kennen Gilgamesch und Enkidu aus einer sehr kurzen Nacherzählung durch Captain Picard in der Folge Darmok.

Ist es nicht interessant, dass viele Motive, Archetypen oder allein schon das Grundmuster der Heldenreise, wie wir sie bereits in diesem Jahrtausende alten Werk dargestellt sehen, noch heute in literarischen oder filmischen Produktionen wiederzufinden sind. Da ist zum Beispiel die Männerfreundschaft zwischen dem Halbgott Gilgamesch und dem wilden Naturburschen Enkidu: Erst prügeln sie sich bis zur Erschöpfung, doch als es keinen Sieger im Zweikampf gibt, einigen sich die beiden auf ein Unentschieden und werden die besten Freunde. Ein beliebter Topos z. B. in Western und Actionfilmen.
Oder wusstet Ihr, dass die biblische Geschichte von Noah und der Sintflut ihr Vorbild in der mesopotamischen Mythologie hat? Dort heißt die Hauptfigur Uta-napišti: Er rettet seine Familie und viele Tiere auf sein Schiff und sie werden durch göttlichen Rat zu den einzigen Überlebenden einer weltumspannenden Flut. So taucht er auch im Gilgamesch-Epos auf: Nach dem Tod seines Freundes sucht der verzweifelte Königssohn Rat bei Uta-napišti, dem von den Göttern nach der Flut sogar Unsterblichkeit geschenkt worden ist. Auch Gilgamesch will unsterblich werden, er lässt sich von dem alten Weisen dessen phantastische Geschichte erzählen. Doch Gilgamesch kann nicht einmal den Schlaf besiegen, der Tod bleibt die letzte Grenze, die ihm gesetzt ist.
Als die Flut- und Arche-Geschichte im Epos entdeckt und übersetzt werden konnte (1872 durch den britischen Assyriologen George Smith), war das Erstaunen groß: Es gibt so eindeutige Übereinstimmungen mit der Noah-Legende im Alten Testament – und das in Keilschrifttexten, die eindeutig älter sind als alle biblischen Schriften. Viel, viel älter.
Raoul Schrott stellt die These auf, dass sogar der Autor der Illias assyrische Texte und eben auch das Gilgamesch-Epos gekannt haben muss. Eine durchaus umstrittene Meinung, auch wenn der Schriftsteller und Übersetzer durch seine intensive Arbeit mit beiden Epen (er hat auch die Ilias übersetzt) sicher ein ausgezeichneter Textkenner ist.

Wie auch immer, selbst wenn heute die Erzählungen von Gilgamesch weit weniger bekannt sind als z.B. die griechisch-römischen Mythen, so gehören sie doch ebenso zu unserem ältesten Kulturgut. Dieser maßlose Königssohn und Halbgott aus Uruk, dieser arrogante, verantwortungslose, ja brutale Kraftprotz, der unverbrüchliche Freundschaft und phantastische Heldentaten erlebt, doch dann erfahren muss, dass auch für ihn Regeln und Gesetze gelten, dass auch seine Macht Grenzen hat, dass er vom Schicksal und der Rache der Götter getroffen werden kann und am Ende sterblich ist wie wir alle, der durch diese Erkenntnisse geläutert zu einem großen König wird, der die Stadt Uruk zu unvergleichlichem Ruhm führt und der zum mythischen Erbauer einer Stadtmauer wird, deren kolossale Überreste wir tatsächlich noch heute bestaunen können – dieser Gilgamesch ist nun also doch unsterblich geworden durch die Literatur. Und er beflügelt auch nach über 4000 Jahren unsere Phantasie.
Was für ein Held, was für ein Mythos!
Übersetzungen, Nacherzählungen, Bearbeitungen und Sachliteratur über das Gilgamesch-Epos findet Ihr hier.
Das erwähnte Buch von Raoul Schrott über seine These einer Verbindung Homers zum assyrischen Raum findet Ihr hier.
HilDa