Buchtipp: Diese Dinge geschehen nicht einfach so

Der Titel sagt schon alles: Dinge geschehen; es gibt Zufälle, Zusammenhänge, Beziehungen, Gefühle, Unausgesprochenes, Vorwürfe, Missverständnisse, Fehler und falsche Entscheidungen, Unterstellungen, Schuld. Vieles ist nicht auf den ersten Blick sichtbar und könnte erst durch ein offenes Gespräch überhaupt erkannt werden. Aber all diese Dinge haben Ursachen. Gerade in einer Familie kann es fatale Folgen haben, wenn sich jeder in seiner eigenen Echokammer verschließt.

Roman "Diese Dinge geschehen nicht einfach so" von Taiye Selasi

Die Familie von Kwaku Sai ist über mehrere Kontinente verteilt zum Zeitpunkt seines Todes. Und genau mit diesem Moment beginnt der Roman: Kwaku stirbt. Sein Herz, ganz plötzlich.
In seinen letzten Minuten erinnert er sich an sein Leben, seine Entscheidungen, seine Erfolge. Wir sehen einen stolzen Menschen, einen genialen Chirurgen, der ganz für seinen Beruf lebte. Fast ein Drittel des Romans sehen wir Szenen aus der Vergangenheit im letzten Blitzlicht seiner Erinnerung. Dazwischen als Gegenspiegel die Reaktionen seiner Familienangehörigen nach der Nachricht über seinen Tod. Ein gelungener Kunstgriff der Autorin, wie sie verschiedene Perspektiven aus der Familie zusammenschneidet – die unterschiedlichen Erinnerungen springen quer durch Raum und Zeit, überschneiden sich aber auch an entscheidenden Punkten. Deutlich wird, wie trügerisch Erinnerung sein kann.

Faszinierend ist nicht nur diese facettenartige Komposition der Familiengeschichte, sondern auch die Metaphern, mit denen Taiye Selasi die unterschiedlichen Charaktere und ihre jeweiligen Geschichten und Standpunkte sprachlich ausmalt.

Nach und nach wird deutlich, wie entscheidend nicht zuletzt die Herkunft einschließlich der Traumata der vorhergehenden Generationen sein kann. Die Kinder leben in London, Boston und New York, sie haben den afrikanischen Kontinent nie oder nur als Gast betreten. Und sie wissen fast nichts über ihre Großeltern und die Herkunft ihrer Eltern: Kweku wuchs in einer ärmlichen Lehmhütte an der Küste Ghanas auf; die Großeltern mütterlicherseits starben im Bürgerkrieg Nigerias. Doch gerade durch das Schweigen der Eltern nehmen die Traumata aus einer Vergangenheit lange vor der Geburt der Kinder auch Einfluss auf deren Entwicklung, ohne dass es ihnen bewusst sein kann.

Der plötzliche Tod von Kweku führt die Familie wieder zusammen, ausgerechnet in Ghana. Die Trauer um den Vater und (Ex-)Ehemann hält sich in Grenzen. Er hatte einst, als sein amerikanischer Traum durch eine falsche Anschuldigung zerbrach, die Familie ohne Angabe von Gründen verlassen und in Ghana ein neues Leben aufgebaut. Jetzt brechen all die unausgesprochenen Zerwürfnisse zwischen den Geschwistern und der Mutter auf. Jeder einzelne der inzwischen erwachsenen Kinder hatte eigene Gründe, die Kontakte zur Familie abzubrechen, auch zur Mutter, die dann zur allgemeinen Überraschung ebenfalls nach Westafrika zurückgekehrt ist. Und so treffen sich alle dort, sitzen zur Vorbereitung der Trauerfeier erstmals wieder an einem Tisch und reisen gemeinsam zu ihren Wurzeln.

Der Roman hat mich einerseits in eine fremde Welt mitgenommen: westafrikanische Auswanderer, die mit Stipendium in den USA studieren können, die vom sozialen Aufstieg träumen und vom Familienglück. Die auf verschiedenen Kontinenten zu Hause sind, sich überall anpassen können und doch immer Außenseiter bleiben.

Andererseits habe ich in den Familienproblemen sehr viel bekanntes wiedererkannt. Gibt es nicht in jeder Familie ungeklärte Missverständnisse und vielleicht auch Unsagbares? Diese Dinge geschehen aber nicht einfach so …

Taiye Selasi, die schon mit ihren Essays und einigen Erzählungen im angloamerikanischen Raum Bekanntheit erlangte, hat da einen beeindruckenden Debütroman vorgelegt, der prompt zu einem internationalen Bestseller wurde. Unsere Katalogdaten (auch zur englischsprachigen Ausgabe) hier.

HilDa


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Viel Freude beim Lesen

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