Hic sunt leones – hier sind Löwen.
„Hic sunt leones schrieb man in alter Zeit an die weißen Flecken einer Landkarte.“
(Seite 9 der Taschenbuchausgabe)
Im Roman geht es um ein unbekanntes Land: Die Ich-Erzählerin und Buchrestauratorin Helen kommt für ein mehrmonatiges Praktikum nach Armenien – nicht nur für sie unbekanntes Terrain, sicher auch für die meisten Leser, so wie für mich. Der Genozid während des 2. Weltkriegs war in unserem Geschichtslehrbuch nicht mehr als ein kleiner Abschnitt, der Satz vom 1. Völkermord des 20. Jahrhunderts ist hängen geblieben. In den Nachrichten heute wird immer wieder mal erwähnt, welche diplomatischen Verwicklungen und Verrenkungen das Sprechen über den Völkermord noch immer auslöst. Doch die Geschichten und die Schicksale hinter den historischen Fakten und dem Gedenken bleiben Leerstellen.

Helen hat von ihrer Mutter Sara ein altes Foto mitbekommen, dreizehn fremde Personen, die ernst in die Kamera blicken, auf der Rückseite eine Notiz mit Ort und Jahr. Verwandte in Armenien, Helens Mutter kennt nur wenige Namen. Ihr Auftrag irritiert. Helen kennt nicht mal ihren eigenen Vater, doch jetzt soll sie fernen Verwandten nachforschen.
Die Leerstelle in der Biografie der Mutter. Und der Großmutter.
„Meine Mutter spricht von einer Lücke. Plötzlich denke ich, ich trage auch etwas von dieser Leerstelle in mir.“
„Und jetzt wollten Sie die Lücke mit Verwandtschaft stopfen?“
„Manchmal hat sich meine Großmutter tagelang eingeschlossen.“
„Sie hatte ihre Gründe.“
(Seite 109 der Taschenbuchausgabe)
Hic sunt leones.
Helen findet in ihrem „exotischen“ Gastland Armenien noch mehr Leerstellen, denn sie taucht auch in die der Kollegen und Kolleginnen und deren Angehörigen ein.
Selbst ihre Arbeit mit den alten Handschriften des Zentralarchivs führt zu fantastischen Leerstellen, die sie restaurieren, dokumentieren und auch manchmal als leer erhalten soll. Welche Bedeutung haben die Kritzeleien und Sprüche, die auf den Rändern neben dem Text zu entziffern sind? Welche Schicksale liegen in den Namen und Daten verborgen, die in die Familienbibel hineingeschrieben wurden?
Ich mag es, wie wir mit Helen in das heutige Armenien eintauchen, wie sie den Weißen Fleck erkundet und sich den Löwen stellt. Zwischen diesen Erfahrungen und Begegnungen in der Gegenwart lässt die Autorin die Familienbibel eine Geschichte aus der düsteren Vergangenheit erzählen; das Heilsevangeliar, das einst den Kindern bei Krankheit unter das Kopfkissen gelegt wurde, ist der einzig gerettete Gegenstand bei ihrer einsamen Flucht durch ein gnadenloses Land, Ballast beim Weg durch die Berge, Spielzeug und sogar Nahrung in der Verzweiflung. Zwei Kinder, die die Welt nicht mehr verstehen, die nicht mehr zurück können und nicht wissen, wohin.
Die Autorin erzählt lakonisch, deutet das ganze Grauen eher an und zeigt um so drastischer, dass sich zwar die Zeiten geändert haben, die Geschichten der Menschenverachtung, des Krieges und der Grausamkeiten setzen sich aber bis heute fort.
Ich bin vor allem begeistert von den Dialogen: kleine Wortgefechte, kein Wort zu viel zwischen Mutter und Tochter oder bei den Telefonaten mit dem Partner im fernen Deutschland – oder beim Bettgeflüster mit dem neuen Geliebten. Auch hier wieder: Leerstellen, die es in sich haben, all das Ungesagte, Angedeutete, Verschlüsselte. Und überall lauern Löwen.
Katerina Poladjan wurde mit diesem Roman auch einem größeren Lesepublikum bekannt: Sie stand damit auf der Nominierungsliste für den Deutschen Buchpreis 2019. Unsere Katalogdaten findet Ihr hier.
Auch ihr neuer Roman „Zukunftsmusik“ wird von der Literaturkritik hoch gelobt. Er war nominiert für den Buchpreis der Leipziger Buchmesse (Shortlist), was leider in diesem Jahr etwas untergegangen ist. Im April war der Roman Platz 1 auf der SWR-Bestenliste. Die Katalogdaten zu allen Werken der Autorin in unserem Bestand findet Ihr hier.
Ihr habt demnächst die Gelegenheit, Autorin und ihr Werk persönlich kennenzulernen. Mehr als diesen kleinen Teaser darf ich noch nicht verraten, aber schon bald erfahrt Ihr mehr. Bleibt gespannt 🤩
HilDa

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