Literaturtage 2022 – persönliche Nachlese #2

Zwei weitere Romane aus der Reihe der Literaturtage 2022 (Teil #1 hier). Leider verblassen bereits die Erinnerungen an die Lesungen, zumindest was Einzelheiten aus den Gesprächen betrifft. Darum kann ich daraus hier nicht viel zitieren. Aber die Bücher hallen lange nach.


Julia Frank: Welten auseinander
Roman "Welten auseinander" von Julia Frank

Wieder ein autofiktionaler Roman, die Autorin verwendet die realen Namen ihrer Familie, verweist auf prominente und weniger prominente Menschen aus ihrem Bekanntenkreis, erwähnt viele Ereignisse des Zeitgeschehens, schreibt als Ich. Darin ähnelt „Welten auseinander“ etwas dem Erinnerungsbuch „Meine Schwester“ von Bettina Flitner – und doch liegen beide Bücher, tja, ich kann‘s mir jetzt nicht verkneifen: Welten auseinander. Inhaltlich sowieso, aber auch Stil, Aufbau, Sprache sind komplett anders. Es wäre unfair, die beiden Werke gegeneinander zu lesen.

Aber ich kann nicht leugnen, dass mir „Meine Schwester“ besser gefallen hat. An (auto-)biografischen Texten stört mich grundsätzlich der unwillkürlich voyeuristische Blick in das Privateste und Intimste. Bei den Literaturtagen 2022 war aber das Erinnern nun mal der Schwerpunkt (siehe Motto „Von der Wandelbarkeit des Erinnerns“); vielleicht ermüdete mich jetzt dann doch ein weiterer autobiografisch geprägter Roman. Zumal Julia Frank wirklich sehr offen über ihre Kindheit und ihre Familie spricht, über die meist prekären Verhältnisse im Haushalt; Verhältnisse, die schon an Verwahrlosung grenzen.

Die Autorin erzählt mit vielen Aufzählungen; das gibt einen sehr detailreichen Einblick in diese mir sehr fremde Welt. Aber auch die Struktur des Romans wirkt wie eine Aufzählung: Episoden aneinandergereiht, mit manchmal ganz unvermittelten Sprüngen. Auf mich wirkte das etwas strukturlos und streckenweise auch ermüdend. Dabei ist die Erzählung über eine Kindheit, die ja tatsächlich fast ohne Struktur und gegen so viel Kälte (im wörtlichen wie im übertragenen Sinn) auskommen musste, einfach erschreckend. Ich muss es hier einfach sagen: Ich bin meiner Mutter so dankbar, dass wir behütet und geborgen aufwachsen durften, in einem Zuhause, das uns Vertrauen und Halt gegeben hat. Keine Selbstverständlichkeiten, wie mir diese Lektüre beweist.
Und vielleicht ist es genau deshalb wichtig, dass ich eben dieses Buch gelesen habe.

So richtig mitgerissen hat mich dann übrigens die tragische Liebesgeschichte gegen Ende des Buches. Ich verrate nicht zu viel, wenn ich sie tragisch nenne, denn das deutet sich schon sehr früh an. Es ist faszinierend geschrieben, wie zwischen zwei Menschen, die aus derart unterschiedlichen Milieus stammen, eine tiefe Vertrautheit und Freundschaft erwächst und daraus dann – ganz langsam und für die Erzählerin gänzlich unerwartet – eine Liebe voller Leidenschaft und Wärme. Dieses letzte Viertel des Buches ist schön und berührend erzählt.

Die Autorin Julia Frank liest aus ihrem Buch "Welten auseinander"
© KlausHansen
Julia Frank, Lesung am 20. Oktober 2022 (©KlausHansen)

Leider war ich bei der Lesung mit der Autorin am 20. Oktober abgelenkt und habe auch dem Gespräch mit der Moderatorin nur zum Teil folgen können. Julia Frank zeigte sich genauso offen und sympathisch wie im Buch. Im Gespräch mit Angelika Teller ging es u. a. um die DDR-Erinnerungen aus der Kindheit: Leben in Ost-Berlin, Ferien an der Ostsee, Ausreiseantrag, dann geradezu traumatisch für die Kinder das Auffanglager im Westen. Das allein wäre schon Stoff für einen Roman gewesen. Auch die Liebesgeschichte mit Stephan über alle Klassengrenzen hinweg könnte ein eigener Roman sein. Oder die charismatischen Großmütter, die vielen Künstler und, nun ja, Lebenskünstler in der (heute würde man sagen Patchwork-) Familie und ihrem breiten Freundes- und Bekanntenkreis – das alles würde für gleich mehrere Romane reichen.

Alles andere als ein leichter Start ins Leben, was die Autorin da erzählt. Aber ein aufschlussreicher Blick auf die 80er und 90er Jahre aus einer für mich in mehrfacher Hinsicht ungewöhnlichen Perspektive.


Norbert Scheuer: Mutabor
Roman "Mutabor" von Norbert Scheuer zusammen mit dem Programmheft der Bielefelder Literaturtage 2022 auf einem grauen Tuch

Die Welt ist ein Dorf.

Vor einem Jahr organisierten Freunde eine Spendenaktion für die Flutopfer in Kall, eine Gemeinde in der Eifel, die ich bis dahin nur als einen Romanort bei Norbert Scheuer kannte – und von der ich dachte, sie sei fiktiv.

In „Mutabor“ wird Kall zum Schauplatz einer Mischung aus Hauff‘schem Märchen und griechischer Tragödie. Die Anspielungen auf „Kalif Storch“ von Wilhelm Hauff sind offenkundig, das beginnt ja schon mit dem Titel, das Zauberwort „Mutabor“, mit dem man sich in einen Storch verwandeln kann. Der Storch ist allgegenwärtig als Motiv bis hin zum Sehnsuchtsort Byzanz/Istanbul mit dem Palast der Störche.

Der zweite Sehnsuchtsort ist Rhodos, die Heimatinsel des griechischen Gastwirts in Kall. Hauptfigur des Romans ist Nina, die als Waise aufwächst, von Istanbul und Rhodos träumt, doch Kall erst verlassen kann, wenn sie das Schicksal ihrer verschollenen Mutter aufdecken kann. Doch wie soll das Gelingen bei all dem Geraune und Gerede und all dem Schweigen und Wegschauen, das dem Mädchen im Dorf entgegen schlägt.

Norbert Scheuer webt die Erzählung voller mythischer Anspielungen erstaunlich leicht aus vielen kleinen Episoden, kombiniert das mit Bierdeckel-Lyrik und den Zeichnungen seines Sohnes. Viel Interpretations- und Assoziationsspielraum für den Leser, anspruchsvoll und doch leichtfüßiger, als ich erwartet hatte.

Norbert Scheuer auf der Bühne, er lacht ins Publikum
© KlausHansen
Norbert Scheuer, Lesung am 10.Oktober 2022 (©KlausHansen)

Zu meiner Freude las Norbert Scheuer den Romanausschnitt über die Ausflüge des Mädchens mit dem schon leicht dementen Opa und seinem klapprigen, längst nicht mehr zugelassenen Opel Kapitän, ihre Fahrten hinaus aus Kall mit dem unerreichbaren Ziel Byzanz – die Fahrten scheitern regelmäßig und führen nur wieder zurück nach Kall.

Das Mädchen wird erwachsen, die junge Frau fragt und forscht hartnäckig weiter; das Klingeln der drei Armreifen, die einst der Mutter gehörten, weist den Weg. Sind es am Ende die Götter, die mit einer großen Flut die Wahrheit freilegen können? Und ändert diese Wahrheit irgendetwas in Kall? Oder zumindest für Nina? Und was ist mit ihrer großen Liebe Paul? Können Liebe und Wahrheit Erfüllung bringen wie im Märchen oder lachen da die Götter wie in der griechischen Tragödie?

Die Wege führen eben nicht alle nach Rom, sondern meist zurück nach Kall. Aber zumindest einer irgendwann mal nach Istanbul? „Mutabor“ ist das Zauberwort. Vielleicht.

Ich kann gar nicht aufhören, immer mehr in diesem kurzen und doch so vielschichtigen Roman zu entdecken.

Die Welt ist ein Dorf. Na ja, fast zumindest.


Autor Jaroslav Rudiš und Moderatorin Antje Doßmann am 26. Oktober 2022 (©KlausHansen)
Autor Jaroslav Rudiš und Moderatorin Antje Doßmann am 26. Oktober 2022 (©KlausHansen)

Es wird noch einen dritten Teil der Nachlese geben, ich lese noch an zwei Romanen.
Außerdem möchte ich auf die beiden Beiträge meiner Kollegin Juliane verweisen: Sie hat „Nastjas Tränen“ von Natascha Wodin gelesen und schon vor den Literaturtagen dazu geschrieben. Und in ihrem ausführlichen Artikel „Reisen mit dem Zug“ , der übrigens auch schon vor den Literaturtagen fertig war, widmet sie Jaroslav Rudiš und seiner „Gebrauchsanweisung fürs Zugreisen“ einen großen Abschnitt.

Roman "Nastjas Tränen" von Natascha Wodin
Die Lesung mit Natascha Wodin, geplant für den 28. Oktober 2022, musste leider ausfallen

HilDa

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