Grenzen|los|lesen
Kanada
Zwei Tage Dienstreise, also zweimal gut 90 Minuten Zugfahrt und eine Hotelübernachtung, dazu evtl. Wartezeiten und die nicht unwahrscheinliche Aussicht auf diverse Verzögerungen bei der Bahn. Da heißt es, ausreichenden Lesestoff dabei zu haben. Der Roman, den ich gerade las, würde nicht mehr lange vorhalten, er war recht kurz und las sich süffig. Aber ein zweites Buch mitschleppen? Nun, da sind eBooks natürlich ideal, der passende Titel war schnell gefunden und heruntergeladen.

In unserer kleinen Reihe Grenzen|los|lesen wollen wir Titel aus anderen Ländern und Kulturen außerhalb der Bestsellerlisten und des sogenannten Mainstream vorstellen. Romane, in denen wir mehr erfahren über das Leben und Denken weit entfernt von unserem eigenen Umfeld. Eine Reise mit zeitgenössischen Romanen um die Welt.
Dass diese Reise nun schon wieder nach Kanada geht, ist kein Zufall. Kanada war 2020/21 Ehrengast der Frankfurter Buchmesse; das ermutigte viele Verlage, auch Werke von hierzulande noch unbekannten Autor*innen zu übersetzen und auf den deutschsprachigen Markt zu bringen. Dass da Richard Wagamese eine echte Entdeckung ist, haben wir hier schon erwähnt. 🤗 Auf der Suche nach weiteren Büchern über Angehörige der First Nations aus erster Hand fiel der Name der jungen Autorin Naomi Fontaine.
„Die kleine Schule der großen Hoffnung“ ist bereits der zweite Roman der Autorin, aber der einzige, der bisher ins Deutsche übersetzt wurde. Im Original heißt er „Manikanetish, Petite Maguerite“, was der Name der Schule ist, um die es in dem Buch geht – benannt nach einer Erzieherin am Ort, die von der Ich-Erzählerin auch als ihr großes Vorbild genannt wird. Der deutsche Titel klingt mir zu sehr nach Edel-Kitsch, aber nun ja. Zwar phantasielos ist er doch zumindest treffend: Die kleine Schule in einem Reservat ist der Mittelpunkt für die neue Lehrerin und für die Jugendlichen und jungen Erwachsenen, die trotz aller Widrigkeiten einen Schulabschuss wollen.
Yammie lässt das Stadtleben und ihren Freund Nicolas hinter sich, um im First-Nation-Reservat Uashat als Lehrerin zu arbeiten. Ist sie noch eine Innu, wie die indigene Bevölkerung im Norden der kanadischen Provinz Québec genannt wird, oder ist sie durch Erziehung und Studium der französischen Sprache schon „zu weiß“ geworden? Kann sie als junge Lehrerin den Heranwachsenden, deren Zukunft von Alkohol und Depressionen überschattet ist, Perspektiven bieten? In einem ereignisreichen Jahr wachsen die Schülerinnen und Schüler Yammie ans Herz. Und sie erkennt, dass nicht nur die Jugendlichen reifen, sondern dass auch sie sehr viel von ihnen lernt.
(Inhaltsangabe Klappentext)
Gefühlvoll und authentisch – dieser ergreifende Roman erzählt vom Leben der Innu, von ihren Sorgen, Ängsten, Sehnsüchten und Hoffnungen.

Ein Roman über eine junge, unerfahrene, aber engagierte Lehrerin an einer deutschen sogenannten Brennpunkt-Schule könnte ganz ähnlich funktionieren. Der Klappentext betont zwar das Leben der Innu, darum geht es im Roman auch, aber nur am Rande. Soziale und familiäre Probleme der Heranwachsenden kennen wir so ähnlich ja auch hier. Die Ich-Erzählerin kommt mit all ihren Selbstzweifeln und Hoffnungen in eine erst einmal geschlossene Gesellschaft, sie ist die Außenseiterin, nicht nur an der Schule, und fällt in tiefe Einsamkeit. Dabei ist sie kaum älter als ihre Schülerinnen. Schicksalsschläge und die gemeinsame, für alle anspruchsvolle Arbeit in der Theater-AG sowie ein Schulausflug in die winterliche Wildnis – und im Norden Kanadas ist die Natur ja nun wirklich wild und unerbittlich – machen aus Schulklasse und Lehrerin ein Team. Doch nicht ohne bittere Verluste: Nicht alle werden den Abschluss schaffen und auch der Weg der Lehrerin verläuft so gar nicht wie geplant.
Ich will nicht zu viel erzählen, der Roman ist eh recht kurz. Sprachlich hat mir Richard Wagamese wesentlich besser gefallen (im Blog hier und hier), seine Erzählungen sind auch vielschichtiger. Naomi Fontaines kleinen Roman über eine Reservatsschule voller Konflikte und Hoffnungen würde ich aber jedem empfehlen, der sich für Pädagogik und die Arbeit mit eher schwierigen Jugendlichen interessiert. Die Art, wie Yammie einen Zugang zu den Schülern findet und wie sie sich selbst dadurch verändert, wie ermutigend auch kleine Schritte sein können für alle Beteiligten – das ist gelungen und schnörkellos erzählt. Und dass ausgerechnet eine herausfordernde Theaterinszenierung den Höhepunkt des Schuljahres bildet, erfreut natürlich mein Theater-Herz besonders.
HilDa
Noch ein kleiner Tipp für alle, die vielleicht noch mehr Literatur aus Kanada entdecken möchten: Margaret Atwood hat eine nicht nur informative, sondern auch amüsante Literaturgeschichte des Landes geschrieben: Survival – ein Streifzug durch die kanadische Literatur.