Ich wollte endlich einmal wieder einen Krimi lesen und folgte der Empfehlung einer Kollegin. Aber ein Jugendroman? Ich gebe zu, meine Erwartungen waren nicht sehr hoch; hoffentlich ist er wenigstens spannend, dachte ich. Und mich interessierte die Hauptfigur: eine junge, fast noch jugendliche Polizeipraktikantin, die dem Volk der Samen angehört. Ich habe mich mal aus privaten Gründen etwas mit der Kultur der Samen beschäftigt, ganz oberflächlich, aber das Interesse ist geblieben. Doch konnte eine deutsche Krimiautorin mich mit einem Jugendroman tiefer in die Welt des indigenen Volkes führen?
Elisabeth Herrmann ist eine bekannte Bestsellerautorin, für ihre Krimis erhielt sie u.a. den Deutschen Krimipreis (2012) und den Jahrespreis der KrimiWelt-Bestenliste 2005 . Dass sie auch Spannungsromane für Jugendliche schreibt, wusste ich bisher gar nicht. In ihrer Danksagung am Ende des Buches sagt die Autorin über ihre Titelheldin:
„Ich liebte Ravna vom ersten Moment an.“
Entstanden sei die Idee zu diesem Roman in Erinnerung an eine Reise mit den Eltern zum Nordkap, die auch an der Kleinstadt Vardø Station machte.
„Es war kalt und grau und alles andere als spektakulär, und doch blieb ein Teil meines Herzens dort zurück und wartete auf meine Rückkehr.“
Elisabeth Herrmann nennt einige ihrer Quellen und Partner, über die sie Informationen für ihren Roman bezogen hat. Soweit ich das beurteilen kann, hat sie gut recherchiert. Jedenfalls ist ihre Liebe zum Sujet deutlich.
Doch im Vordergrund des Krimis steht ein wirklich spannender Plot. Und damit komme ich endlich zur Handlung, die mich tatsächlich von der ersten Seite an fesselte – und Elisabeth Herrmann weiß die Spannung zu immer neuen Höhepunkten zu steigern. Ein Pageturner.

Gleich an Ravnas erstem Praktikumstag wird die kleine, verschlafene Polizeistation von Vardø im äußersten Nordosten Norwegens mit einem grausigen Mord konfrontiert. Schauplatz ist eine alte Kultstätte, Opfer ist ein äußerst unbeliebter samischer Großgrundbesitzer. Ausgerechnet der Neuling im Polizeiteam, die samische Praktikantin, kann die Zeichen erkennen, die darauf hindeuten, dass auch der Täter Angehöriger des Samen-Volkes der Region sein muss. Ravna muss sich mit dieser schockierenden Erkenntnis aber gegen viele Vorurteile und Widerstände durchsetzen, zumal recht schnell ein Verdächtiger mit gutem Motiv und ohne Alibi gefunden ist – prompt gilt der Fall als aufgeklärt. Wer hört in dieser Männerwelt schon auf die junge Frau, die unwissende Praktikantin, die verachtete Eingeborene.
Ausgerechnet der grantige Ermittler aus der Provinzhauptstadt Kirkenes tut es. Die beiden werden zu einem außergewöhnlichen Ermittlerpaar. Beide kämpfen mit persönlichen Traumata, beide sind Außenseiter, beide suchen voller Ehrgeiz nach der Wahrheit. Aber der geniale und sehr eigensinnige Rune Thor ist ein herausfordernder und schwieriger Chef, alkoholabhängig, abweisend, herrisch. Und Ravna hat ein Loyalitätsproblem, muss sie doch Informationen über ihr Volk, ihre Nachbarn, ehemalige Schulkameraden und Familienangehörige sammeln und preisgeben.
Und dann ist da noch die unerbittliche Natur: die Polarnacht, einsame Winterweiden, schroffe Steilküsten, eisige Kälte und wilde Schneestürme. Und der Glaube der Indigenen: die einen sind Anhänger einer fundamentalistisch-bibeltreuen Erweckungskirche, andere folgen noch immer den alten Riten und hören auf den Rat der Schamanin. Ravna jedenfalls steht zwischen allen Stühlen.
Es geschehen weitere Morde – und alles gipfelt in einem furiosen Höhepunkt.
Elisabeth Herrmann erzählt sehr geradlinig und atmosphärisch, bleibt dabei immer ganz nah bei ihrer Hauptfigur. Es gibt kleine Einschübe mit Zitaten aus der Mythologie der Samen oder mit kurzen Dialogen zwischen Ravna und ihrer älteren Schwester. Das ist geschickt und spannend konstruiert, mit immer wieder überraschenden Wendungen, auch sprachlich ansprechend. Er kommt zwar als Jugendroman daher, ich empfehle ihn aber gerne auch erwachsenen Lesern, nicht nur wenn sie (touristisches) Interesse an Lappland haben. Ein spannender All-Age-Roman im besten Sinne.
Dank an die Kollegin für ihren guten Tipp. Übrigens liest sie schon den Folgeband …
Unsere Katalogdaten zu den Titeln der Ravna-Reihe hier.
Für all die, die mehr über Sapmi, den Kulturraum der Samen, wissen möchten, empfiehlt Elisabeth Herrmann die Website von Liane Gruda und Hans-Joachim Gruda: homo peregrinus, die Seite bietet wirklich sehr umfassende Informationen. Ich habe mich damals für ein privates Projekt mit Hilfe einer Broschüre des schwedischen Landwirtschaftsministeriums „Sami – ein Ursprungsvolk in Schweden“ informiert, die PDF scheint aber nicht mehr im Netz zu sein; dafür aber eine ausführliche Webseite samer.se, zwar auf Schwedisch, aber man kann sie sich auch auf Deutsch anzeigen lassen (klappt ganz gut mit Google Translate).
Viel Freude beim Lesen
HilDa