Pinocchio von Carlo Collodi

Winterzeit ist Märchenzeit #11

Heute würde man das Kinderbuch Pinocchio vielleicht dem Genre Fantasy zuordnen. Als Carlo Collodi die Figur des Holzjungen erfand, waren Kunstmärchen in Europa recht beliebt – nicht unbedingt als Erzählungen für Kinder, sondern gerade auch für Erwachsene. E.T.A. Hoffmann, Oscar Wilde, Wilhelm Hauff, Hans Christian Andersen oder etwas später der Amerikaner L. Frank Baum, um nur einige der bekanntesten Autoren von Kunstmärchen zu nennen.

1881 veröffentlichte der Autor Carlo Lorenzini (1826-1890) unter dem Pseudonym Collodi (nach der Geburtsstadt seiner Mutter) seine erste Pinocchio-Geschichte in einer Kinderzeitschrift. Es folgten weitere Erzählungen; die Serie war so erfolgreich, dass Collodi daraus ein Kinderbuch machte, das erstmals 1883 erschien: „Le avventure di Pinocchio“

Buch: "Pinocchios Abenteuer" von Carlo Collodi, mit 37 Holzstichen von Werner Klemke, dtv-Weltliteratur

Dem Roman merkt man an, dass er aus einzelnen Geschichten zusammengefügt wurde; es gibt so einige logische Unstimmigkeiten. Es gibt auch Szenen im Original, die wir heute als zu drastisch und brutal für kleine Kinder empfinden. Trotzdem wurde Pinocchio zu einer weltweit bekannten und beliebten Figur. Mehr über den Autor und seinen Kinderbuch-Klassiker findet Ihr hier.

Heute gibt es verschiedene Bearbeitungen und Übersetzungen des Romans. Gerade ist wieder eine neue Verfilmung in den Kinos – „Pinocchio“ von Guillermo del Toro wird nicht die letzte Filmversion sein und hat viele Vorgänger. Die berühmteste ist Walt Disneys Zeichentrickfilm „Pinocchio“ von 1940. Ich habe auch schon zwei sehr unterschiedliche Bühnenfassungen im Theater erlebt, die jüngste Inszenierung im Theater Bielefeld habe ich aber leider verpasst.

In der Stadtbibliothek war anlässlich des Märchenspiels im Stadttheater die Nachfrage nach dem Kinderbuch sehr groß, darum wurden weitere Exemplare und verschiedene Bearbeitungen angeschafft. In der Kinderbibliothek und in unseren Stadtteilbibliotheken findet Ihr „Pinocchio“ für alle Altersgruppen: von der vereinfachten Fassung bis zur vollständigen Übersetzung, verschiedene Übersetzungen, Neubearbeitungen, mal bunt illustriert, mal schlicht, dazu verschiedene Verfilmungen und Hörbücher. Stöbert einfach mal im Online-Katalog (70 Treffer mit „Pinocchio“ ) oder fragt die Kolleginnen in der Kinderbibliothek oder in den Stadtteilbibliotheken.

Eine der ersten Übersetzungen ins Deutsche hatte noch den Titel „Geschichte vom hölzernen Bengele“; sie ist von dem katholischen Anstaltspfarrer Anton Grumann und wurde erstmals 1913 vom Herder-Verlag herausgegeben, ein Bestseller mit vielen Auflagen. In einer noch früheren Übersetzung (1905) hieß Pinocchio noch „Hippeltitsch“ und die Version von Otto Julius Bierbaum aus dem gleichen Jahr heißt „Zäpfel Kerns Abenteuer“ – weniger eine Übersetzung, Bierbaum erzählt seine „Deutsche Kasperlegeschichte“ (so der Untertitel) sehr frei nach Collodi, verwendet aber überwiegend die gleichen Personen nur mit eingedeutschten Namen. Weitere eingedeutschte Namen für Pinocchio: Kasperle (z.B. in einer Übersetzung von Heinrich Siemer), Klötzli (Übersetzer Josef Kraft), Hölzele ( Übersetzer Franz Latterer), Larifari (Übersetzer Louis Concin), Purzel (einmal beim Übersetzer Alois Pischinger und auch bei der Übersetzerin Charlotte Birnbaum), Hampelchen (Übersetzerin Lily Dolezal). Hat sich aber alles nicht gegen den Originalnamen Pinocchio durchgesetzt. 😆

In unserem Magazin, in dem wir alte Bücher bewahren, haben wir eine undatierte Ausgabe von „Zäpfel Kerns Abenteuer“ sowie eine (gekürzte) Schulausgabe von 1966.

Zwei Mal "Zäpfel Kerns Abenteuer" von Otto Julius Bierbaum, einmal als Buch, einmal als "Hamburger Leseheft"

Im Magazin haben wir auch noch andere, interessante Ausgaben:

  • So ist „Die Abenteuer des Pinocchio“ aus dem Marées-Verlag von 1948 eine Übertragung von dem Unternehmer Hubert Tigges (zusammen mit I. Tigges) der nach dem Krieg den Wuppertaler Verlag gegründet hatte, um dann aber wieder mit seinem Reiseunternehmen Dr. Tigges-Fahrten vor allem anspruchsvolle Bildungsreisen anzubieten. Die Illustrationen sind von dem Maler und Grafiker Reinhold Bicher.
  • Der Erich-Schmidt-Verlag veröffentlichte „Die Abenteuer des Pinocchio“ in einer Übertragung von Vico Mantovani und mit Zeichnungen von Gerhard Klaus.
  • Die Abenteuer des Kasperle Pinocchio“ aus dem Stahlberg-Verlag ist von Hildegard Ossen, ganz ohne Illustrationen und in einem kleinen Format, auch die Schriftart.
  • Während die drei vorher genannten Bücher alle im Jahr 1948 erschienen sind – entsprechend schlecht und vergilbt ist auch die Papierqualität – ist die Neubearbeitung von der Kinderbuchautorin Marina Thudichum (mit Zeichnungen von Susi Storck-Rossmanit) „Pinocchio: der hölzerne Hampelmann“ aus dem Wiener Tosa-Verlag seit den 60er Jahren mehrfach neu aufgelegt worden, unsere Ausgabe ist wahrscheinlich aus dem Jahr 1979.
3 alte Bücher: "Die Abenteuer des Pinocchio" aus dem Erich-Schmidt-Verlag, "Die Abenteuer des Kasperle Pinocchio" und "Die Abenteuer des Pinocchio"
Drei alte Pinocchio-Bücher aus unserem Magazin

Wenn Ihr mehr über die vielen Pinocchio-Übersetzungen wissen wollt, empfehle ich den Artikel von Ulrike Schimming, selbst Übersetzerin, in ihrem E-Magazin für Kinder- und Jugendliteratur LETTERATUREN: „Pinocchios übersetzerischer Werdegang“ .

Ganz für Erwachsene ist übrigens die Übersetzung von Heinz Riedt in der dtv-Reihe Weltliteratur „Pinocchios Abenteuer“ (mit Holzstichen von Werner Klemke), denn: „Man sollte ‚Pinocchio‘ als Erwachsener lesen, …“ , wird Antonio Tabucchi im Vorwort zitiert. 🙂

Jetzt möchte ich gerne noch zwei Bücher aus unserer Kinderbibliothek vor allem wegen der Illustrationen empfehlen:

Carlo Collodi hat den großen Welterfolg seines Pinocchio nicht mehr erlebt. Wer mehr über den Autor und sein Werk wissen möchte, für den habe ich hier einen interessanten Link von der Uni Kiel.

HilDa

2 Kinderbücher: "Die Abenteuer des Pinocchio" übersetzt und illustriert von Mario Grasso, Lappan-Verlag und "Pinocchio", Illustrator Quentin Greban, Nord-Süd-Verlag

Winterzeit ist Märchenzeit #10

Rotkäppchen: Variationen und Parodien

Rotkäppchen war unter den bekannten Grimm-Märchen das, welches ich als Kind am wenigsten mochte. Hatte mit Karneval zu tun – lange Geschichte. Aber nachdem ich jetzt ein kleines Büchlein mit vielen Rotkäppchen-Versionen und -Parodien gelesen habe, weiß ich auch das Original wieder zu schätzen. Wobei sich natürlich auch hier wieder die Frage stellt, was ist das Original? Die Grundmotive des Märchens gehen vielleicht sogar auf archaische Initiationsriten zurück.

Parodien kann man natürlich nur richtig genießen, wenn man auch deren Vorlage gut kennt. Uns sind die schriftlichen Fassungen der Brüder Grimm (KHM 26) vertraut, vielleicht noch deren wichtigstes Vorbild „Le petit chaperon rouge“ (1697) von Charles Perrault; der kannte in seiner Erzählung übrigens noch keinen Jäger und kein Happy End für Großmutter und Rotkäppchen.

Sachbuch "Die Geschichte vom Rotkäppchen: Ursprünge, Analysen, Parodien eines Märchens" von Hans Ritz

Das Buch von Hans Ritz „Die Geschichte vom Rotkäppchen: Ursprünge, Analysen, Parodien eines Märchens“ (Katalogdaten) ist schon etwas älter und wurde mehrfach neu aufgelegt und ergänzt, ein Standardwerk zum Thema. Es verweist auf Erzählungen, Gedichte oder Cartoons aus verschiedenen Zeiten und in unterschiedlichen Stilen, mehrere Hundert Versionen soll es insgesamt geben.

Mir hat am Besten die Parodie von Joachim Ringelnatz gefallen, der einen alten griesgrämigen Seebären (Kuttel Daddeldu) das Märchen neu erzählen lässt; dabei gibt er der Großmutter die Hauptrolle. Die Oma frisst den Wolf, weil er ihr komisch kommt, und als das Rotkäppchen mit seinen dummen Fragen nervt, da … – ja, was stellt sie auch so dumme Fragen! Die Parodie eignet sich übrigens herrlich zum Vorlesen – allerdings nicht gerade für kleine Kinder; selbst einige ältere Damen und Herren waren eher irritiert, als amüsiert, als ihnen die Ringelnatz-Version vorgetragen wurde. Nun, darauf hatte ich es allerdings auch angelegt. 😉 Hier gibt es einen Link zu „Kuttel Daddeldu erzählt seinen Kindern das Märchen vom Rotkäppchen“ (1923).

Das Buchcover zeigt den Kopf eines zähnefletschenden Wolfes

Es gibt viele moderne Bücher, die das Rotkäppchen-Thema verwenden und neu interpretieren. Eines hatten wir hier schon mal als Vorlesetipp für Kinder, das Bilderbuch von Sebastian Meschenmoser „Rotkäppchen hat keine Lust“ (Katalogdaten); der Autor und Illustrator hat auch noch andere Märchen auf seine wunderbare Art adaptiert.

Zu Karen Duves modernen Erzählungen nach Grimms Märchen – „Grrrimm“ (Katalogdaten) – hatten wir hier auch schon einmal einen Beitrag. Eine der fünf bissigen Märchen-Neufassungen für Erwachsene setzt die Rotkäppchen-Geschichte um: als gruselige Werwolf-Erzählung.

Buch "Raubzüge durch die deutsche Literatur: Parodien" von Peter Wawerzinek

Der Schriftsteller Peter Wawerzinek hat regelmäßig verschiedene Kollegen und Kolleginnen von DADA bis Gegenwart parodiert, indem er in ihrem jeweiligen Stil das Märchen Rotkäppchen zu Lyrik oder Kurzprosa verarbeitet. Eine Auswahl ist in dem Band „Raubzüge durch die deutsche Literatur“ (Katalogdaten) wiedergegeben; um diese Satiren zu verstehen, muss man allerdings neben dem Märchen auch den Stil der parodierten Person kennen. Auf einer CD trägt der Autor und Vortragskünstler seine Parodien auch selbst vor: ein literarischer Spaß.

3 Manga-Taschenbücher "Crimson Wolf" von Seishi Kishimoto

Rotkäppchenparodien und -anspielungen finden wir überall, in der Werbung zum Beispiel – gerade weil schon wenige Andeutungen reichen, die von nahezu allen Konsumenten sofort erkannt werden. Und so ist Rotkäppchen auch ein beliebtes Motiv in Krimis und Thriller: Das Opfer trägt ein rotes Kleidungsstück, ist naiv und leichtsinnig, der Täter kommt als Verführer daher und mordet skrupellos, gerne als Serienkiller. Auch Fantasy-Literatur und Comic (im Foto 3 Bände der Manga-Reihe „Crimson Wolf“ von Seishi Kishimoto, Katalogdaten)greifen das Thema dankbar auf. Und Kinderfilme wie die „Shrek“-Reihe leben von Anspielungen auf bekannte Motive aus den Volkserzählungen und Kunstmärchen, u. a. eben auch auf Rotkäppchen.

Ihr findet in den Medien und nicht zuletzt auch in unserem Bestand bestimmt noch mehr Beispiele.

Viel Freude beim Stöbern und Entdecken.

HilDa

Die Märchenbuchausstellung wurde verlängert:
Noch bis zum 12. März könnt Ihr am Neumarkt Rotkäppchen und vielen anderen Märchen aus aller Welt nachspüren. Interessante Informationen gibt es gratis dazu:
In unserer Broschüre zur Ausstellung:

Zum 4. Advent … Winterzeit ist Märchenzeit #8

Märchenparodie als Vorleseempfehlung

Man muss die Originalerzählungen nicht kennen, um Spaß an den Märchen-Bilderbüchern von Sebastian Meschenmoser zu haben; aber noch witziger sind sie, wenn man den Gegensatz vom Volksmärchen zur neuen Parodie des originellen Künstlers, Illustrators und Kinderbuchautoren erkennt.

Rotkäppchen hat keine Lust

Beim Märchen vom Rotkäppchen kann man wohl zumindest bei den meisten Erwachsenen voraussetzen, dass es bekannt ist.
Sebastian Meschenmoser hat die Figuren Wolf, Großmutter und natürlich Rotkäppchen sowie einzelne Motive der Handlung genommen und daraus eine ganz andere Geschichte gemacht. Wolf will Rotkäppchen fressen und lauert dem Mädchen auf. Soweit so bekannt. Doch er trifft auf eine missmutige Göre, die zum Geburtstag der Großmutter gehen muss, aber eigentlich an diesem Sonntag etwas ganz anderes machen möchte. Ihre Geschenke sind lieblos, ihre Antworten patzig, ihre Laune sichtlich mies. Da hat der Wolf aber gute Ratschläge für viel passendere Mitbringsel und lädt sich auch gleich selbst als leutseligen Überraschungsgast mit ein – sehr zur Freude der Großmutter. Am Ende findet sogar das lustlose Rotkäppchen noch seinen Weg, aber alles so ganz anders als in dem bekannten Märchen.

Das Bilderbuch steckt voller Wort- und Bildwitz, eignet sich also nicht nur zum Vorlesen, sondern auch zu weiteren kleinen Entdeckungen. Wer will, kann das Ende noch weiterspinnen, denn was das Rotkäppchen von nun an macht, „das ist eine andere Geschichte“.
(Katalogdaten hier)

Ein populäres Märchen augenzwinkernd gegen den Strich erzählt. Wer Freude daran hat: Es gibt noch mehr dieser Art von Sebastian Meschenmoser – und er bleibt dabei in der Wolfsfamilie.

    • Die verflixten sieben Geißlein: Der Wolf will die 7 Geißlein fressen, doch das Haus der Ziege ist so unordentlich, dass er die Kleinen nicht finden kann. Also fängt er an, Ordnung in das wimmelige Durcheinander zu bringen. (Katalogdaten hier)
    • Vom Wolf, der auszog, das Fürchten zu lehren: Der Wolfsvater ist bitter enttäuscht von seinen Söhnen. Der erste hat sich mit einer alten Dame angefreundet, anstatt sie mitsamt dem Rotkäppchen aufzufressen und der zweite kam nicht einmal mit 7 jungen Geißlein zurecht. All seine Hoffnung liegt nun auf dem jüngsten Wolf, der voller Zuversicht auszieht, um das gefürchtetste Wesen im ganzen Wald zu werden. Das ist aber leider nicht so einfach wie gedacht. (Katalogdaten hier)

HilDa

Winterzeit ist Märchenzeit #7

Die kleine Meerjungfrau
von
Hans Christian Andersen

Dieses Märchen hat mich im letzten Jahr begleitet, darum habe ich mir zu Weihnachten eine besonders schöne Buchausgabe geschenkt:

wegen der Pop-Up- und Dreh-Elemente nicht gerade bibliotheksgeeignet, wohl auch nicht für kleine Kinder gedacht, sondern eher etwas für Sammler und Liebhaber. Mich erinnerten die Illustrationen an das Bühnenbild einer Theaterinszenierung.

Das Designteam MinaLima, berühmt für die grafisch-visuelle Gestaltung der Harry-Potter-Filme, gibt besonders dem titelgebenden ersten Märchen des Bandes eine bunte, verspielte Note.

 

Das prächtige Buch haben wir nicht in der Bibliothek, aber hier die bibliografischen Daten:

Die kleine Meerjungfrau und andere Märchen / von Hans Christian Andersen. Illustriert von MinaLima Design. – Münster : Coppenrath, 2018

 

 

Wirklich überrascht hat mich aber der Text der Erzählung. Ich hatte geglaubt, das Märchen längst zu kennen, doch wahrscheinlich hatte ich bisher nur gekürzte oder veränderte Versionen gelesen. Die Märchenerzählung ist länger als ich gedacht hätte, enthält schöne Beschreibungen der Unterwasserwelt (von der die Leser zu Andersens Zeiten ja keine Farbfotos oder Fernsehbilder kennen konnten) und ein für mich doch sehr überraschendes Ende.

Illustration aus dem Buch

Die kleine Meerjungfrau, die übrigens bei Andersen nie bei einem Namen genannt wird, ist schon von den Menschen fasziniert, lange bevor sie überhaupt an die Wasseroberfläche darf, um die Welt zu erkunden. Als sie sich dann auch noch in einen Prinzen verliebt, will sie ihr Wasserleben aufgeben, opfert sogar ihre zauberhafte Stimme, nur um Beine zu erhalten und bei den Menschen leben zu können. Jeder Schritt auf ihren neuen Beinen ist ungeheuer schmerzhaft, ein Schmerz, den sie aus Liebe erträgt. Doch der Prinz liebt eine andere. Diese Szene war für mich eine Überraschung, denn er ist nicht etwa untreu, nein: Er bietet der fremden, stummen Frau, die er am Strand scheinbar hilflos findet, seine Freundschaft an, nimmt sie ohne Bedingungen bei sich am Hofe auf und erzählt ihr gleich freimütig, dass sie seiner großen Liebe ähnele – er macht ihr nie weitergehende Hoffnungen. Natürlich ahnt er auch nicht, was für Folgen es für die verwandelte Nixe hat, wenn ihre Liebe nicht erwidert wird. Die Hochzeit mit der anderen bedeutet für sie, dass der Zauber vorbei ist, sie muss bei Sonnenaufgang zu Meerschaum zerfließen.

Illustration aus dem Buch

Die Ermordung des Prinzen könnte sie zwar retten, ihr die Rückkehr in die unbeschwerte Unterwasserwelt ermöglichen. Doch sie wählt lieber den Tod.
Ein trauriges Ende.

Doch nein, nicht das Ende, denn das Märchen geht noch weiter: Der Meerjungfrau wird für ihre gute Tat das angeboten, was eigentlich nur Menschen gewinnen können – eine Seele und damit  ein ewiges Leben. Aus der Nixe, die ein Mensch sein wollte, wird ein Luftwesen, das sich zwar noch 300 Jahre lang durch weitere gute Werke bewähren muss, aber dann Unsterblichkeit erlangen kann.

Eine unglückliche, nicht erwiderte Liebe – die Interpreten verweisen auf verschiedene biografische Bezüge in Andersens Leben, die ihn zu diesem Märchen inspiriert haben sollen. Uns Lesern fallen sicher auch eigene Erfahrungen ein: die Liebe als süßlich-plüschige Glückseligkeit, wie sie am klassischen Ende eines Märchens zu stehen hat – ach, im Leben verläuft’s oft anders. Hans Christian Andersen schreibt über den Schmerz, über die Enttäuschung, aber auch über den Sieg der wahren Liebe, die dem anderen das Glück wünscht und gönnt, die loslassen kann, selbst zum Preis der eigenen Einsamkeit. Kein Happy End für jeden, aber auch kein trauriges oder gar hoffnungsloses Ende. Andersens phantastische Erzählung von 1837 (dänischer Originaltitel: Den lille Havfrue) bietet tatsächlich mehr Realismus als die vielen Adaptionen á la Hollywood, die wir heute für kindgerechter halten, weil sie nicht so traurig sind.
Nun ja.

Ich habe mir Disneys Arielle, die Meerjungfrau (The Little Mermaid, 1989) noch immer nicht angesehen, sollte es aber vielleicht mal machen, denn laut Lexikon des Internationalen Films ist der Trickfilm sentimental aber mit viel Komik, mitreißend und fantasievoll, auch wenn er mit „Andersens tief melancholischer Vorlage kaum noch etwas zu tun hat“.

Andersens Märchenstil gefällt mir jedenfalls ausgesprochen gut, die Sprache in der Übersetzung meiner neuen Märchenausgabe auch. Ich freue mich auf die anderen Erzählungen (Die Nachtigall, Das hässliche Entlein, Die Schneekönigin, …), da gibt es sicher noch so manche überraschende Entdeckung – selbst bei den „eigentlich“ bekannten.

Wenn Ihr selber einmal wieder „Die kleine Meerjungfrau“ oder auch andere Märchen von Hans Christian Andersen lesen möchtet, empfehle ich aus der Stadtbibliothek folgende Ausgaben:

Für Kinder:

Die kleine Meerjungfrau / nach der Geschichte von Hans Christian Andersen illustriert von Chihiro Iwasaki; Textbearbeitung von Rosi Plattner. – Salzburg : Bilderbuchstudio Neugebauer, 1984.
> Katalogdaten hier

 

 

Schon eine ältere Bilderbuchausgabe, aber mir gefallen die aquarellierten Zeichnungen der japanischen Künstlerin Chihiro Iwasaki sehr (mehr über sie in der englischsprachigen Wikipedia).

Die kleine Seejungfrau / Hans Christian Andersen. Nacherzählt von Arnica Esterl. Illustriert von Anastassija Archipowa. – Esslingen ; Wien : Esslinger, 2005.

Die schönsten Märchen / von Hans Christian Andersen. Mit Bildern von Anastassija Archipowa. Einzelne Märchen nacherzählt von Arnica Esterl. – Esslingen ; Wien : Esslinger Verl. Schreiber, 2000.

> Katalogdaten (u.a.) hier.

Die russische Malerin Anastassija Archipowa illustriert Andersens Märchen detailreich und sehr phantasievoll.

Märchen : Bilder von Nikolaus Heidelbach / Hans Christian Andersen. Aus dem Dänischen von Albrecht Leonhardt. – Weinheim ; Basel : Beltz, 2004.
> Katalogdaten hier

 

 

 

Vom Format her vielleicht doch eher ein Buch für Erwachsene, aber ideal zum Vorlesen. Der preisgekrönte Bilderbuchillustrator (und Autor) Nikolaus Heidelbach hat einen ganz eigenen Bilderschatz zu Andersens Märchen geschaffen: schön und voller Details, hintergründig und saftig.

Für Erwachsene:

Der Schatten : Hans Christian Andersens Märchen – gesehen von Günter Grass – Göttingen : Steidl, 2004.
> Katalogdaten hier

 

 

 

Natürlich kann auch aus diesem opulenten Band vorgelesen werden, aber die Aufmachung und vor allem die Lithografien von Günter Grass zielen eindeutig auf den erwachsenen Leser und Betrachter und interpretieren die bekannten und unbekannten Märchen neu.

Viel Freude beim Lesen.

HilDa

Winterzeit ist Märchenzeit #6

Winter is coming – also machen wir auch weiter mit unserer Märchenzeit.
Und da das Theater Bielefeld das amerikanische Märchen „Der Zauberer von Oz“ als Familienstück zur Weihnachtszeit spielt und die Märchenvorlage von L. Frank Baum in Deutschland kaum bekannt ist, liegt es doch nahe, hier im Blog ein paar Informationen zusammen zu tragen.

 

Der Zauberer von Oz

Ich kenne das Märchen auch erst durch eine Theaterinszenierung vor vielen Jahren, bei der ich den Blechmann spielen durfte. Selbst den Filmklassiker von 1939 mit Judy Garland hatte ich vorher nie gesehen, kannte nur den Titel und ein paar Ausschnitte. Und natürlich das Lied: „Somewhere over the Rainbow“. Das Theaterstück damals war toll, also habe ich auch das Buch gelesen. Vielleicht lag es ja an der Übersetzung, jedenfalls gefiel mir die Märchenerzählung nicht besonders; und selbst der Musicalfilm konnte mich nicht begeistern. In den USA gehört er zum alljährlichen Weihnachtsprogramm im Fernsehen, ein Familienereignis. Als synchronisierte Fassung unter dem Titel „Das zauberhafte Land“ wird er zwar auch im deutschen Fernsehen regelmäßig um Weihnachten herum im Kinderprogramm gezeigt, aber weder Film noch Buch haben hier je große Popularität erreicht.

Illustration von W.W. Denslow – Library of Congress LC Control No.: 03032405 (p. 81), Gemeinfrei, https://commons.wikimedia.org/w/index.php?curid=4674617

L. Frank Baum (seinen Vornamen Lyman mochte er angeblich nicht, darum kürzte er ihn nur ab) schrieb mit „The Wonderful Wizard of Oz“ den ersten amerikanischen Kinderbuchklassiker. Seine Figuren sind in den USA ebenso vertraut wie bei uns das Märchenpersonal der bekanntesten Grimm’schen Erzählungen. Der große Erfolg schon gleich im ersten Erscheinungsjahr 1900 ist sicher auch seinem Illustrator William Wallace Denslow zu verdanken.

Dass die Hauptfiguren Dorothy und ihr Hund Toto sowie ihre neu gewonnenen Freunde Vogelscheuche, Blechmann und Löwe ebenso wie die große Gegenspielerin, die böse Hexe des Westens, als Charaktere seltsamerweise hierzulande bekannter als die Erzählungen selbst sind, liegt wohl an den vielen Zitaten aus Kinderbuch und Film in der amerikanisch geprägten Popkultur. Die roten Schuhe, der gelbe Steinweg, der Wirbelsturm, der das Haus weg trägt, die grüne Smaragdstadt und eben Vogelscheuche, Blechmann und Löwe, die für sich Verstand, Herz und Mut suchen – das wird oft in TV-Serien, Filmen, Werbung, Videoclips oder Songtexten aufgegriffen, weil es als bekanntes Allgemeinwissen in den USA vorausgesetzt werden kann. Hierzulande fehlt jedoch meist das Wissen um den Kontext.

Baum nutzte für seinen Märchenroman die klassische Struktur der Heldenreise:

Dorothy wird durch einen Wirbelsturm aus dem beschaulichen Kansas in das zauberhafte Land Oz getragen und dort gleich als Heldin gefeiert, weil durch ihre Ankunft – aber von ihr unbeabsichtigt – eine böse Hexe getötet wurde. Zur Belohnung erhält sie Zauberschuhe, doch leider hat sie sich auch die Feindschaft der ebenfalls bösen Hexe des Westens eingefangen. Dorothy will wieder zurück nach Hause, doch das geht nur mit Hilfe des großen und mächtigen Zauberers in der Smaragdstadt. Sie folgt dem gelben Steinweg und trifft unterwegs Freunde: Sie holt die Vogelscheuche von der Stange, ölt den eingerosteten Blechmann und beruhigt den ängstlichen Löwen. Die Drei schließen sich ihr an, denn sie haben ebenfalls Wünsche an den Zauberer. Gemeinsam erleben sie Abenteuer, besiegen sogar die Westhexe – doch der große und mächtige Zauberer ist nicht das, was alle glauben. Trotzdem gibt es für alle ein Happy End.

Die Wikipedia bietet zu Lyman Frank Baum und Der Zauberer von Oz sehr ausführliche Artikel und Bilder.

Die schon jetzt fast ausverkauften Aufführungen am Bielefelder Theater haben nun in unserer Bibliothek zu einer größeren Nachfrage nach dem Märchen geführt; Schulen, Kindergärten und auch einige Eltern wollen ihre Kinder auf den Theaterbesuch vorbereiten oder die auf der Bühne gesehene Geschichte noch einmal nachlesen.

Es gibt unterschiedliche Ausgaben und Übersetzungen, Bearbeitungen für verschiedene Altersgruppen, Bilderbücher und Vorlesebücher. In unseren Stadtteilbibliotheken und natürlich in der Kinderbibliothek am Neumarkt könnt Ihr fündig werden – wenn nicht gerade alles ausgeliehen ist. Ich habe jedenfalls nur zwei Ausgaben zum Fotografieren vorgefunden: die Übersetzung von Sybil Gräfin Schönfeldt im Dressler-Verlag und die illustrierte Ausgabe aus dem Coppenrath-Verlag.

Der Zauberer von Oz / von L. Frank Baum; übersetzt von Sybil Gräfin Schönfeldt. – Dressler-Verlag

Der Zauberer von Oz / von L. Frank Baum; nacherzählt von Heidemarie Brosche; Bilder von Markus Zöller. Coppenrath-Verlag

 

 

 

 

 

 

 

 

 

Übrigens findet Ihr in unserem Videoarchiv sogar noch die erste Stummfilm-Verfilmung (mit Oliver Hardy als Blechmann) und auch den Filmklassiker mit Judy Garland als VHS-Videokassette; den Musicalfilm von 1939 gibt es aber auch als DVD (4 Discs mit viel Bonus-Material anlässlich des 70. Filmjubiläums). Und dann ist da noch die Musical-Verfilmung 1978 „The Wiz – Das zauberhafte Land“ von Sidney Lumet mit Diana Ross und Michael Jackson, Musik Quincy Jones.

Follow the yellow brick road …

HilDa

Winterzeit ist Märchenzeit #5

Bereits im letzten Winter haben wir unter dieser Überschrift einige Beiträge zum Thema Märchen gebracht. In diesem Winter wollen wir die Reihe fortsetzen. Natürlich passen Märchen in jede Jahreszeit. Aber die Tradition der Märcheninszenierungen zur Adventszeit in den Theatern führt viele Kinder in die Märchenwelt ein. Und damit auch die begleitenden Eltern, Großeltern und Paten oder die Lehrerinnen und Erzieher, die ihre Schüler und Kindergartenkinder auf den Besuch des „Weihnachtsmärchens“ vorbereiten wollen: Wenn die Premiere am Theater Bielefeld näher rückt, wächst in unserer Kinderbibliothek die Nachfrage nach Büchern und anderen Medien passend zum Kinderstück.

Aladin und die Wunderlampe

In diesem Jahr ist es „Aladin und die Wunderlampe“, Premiere war bereits am 10. November 2018 und gespielt wird noch bis zum 6. Januar 2019.

Allein schon die Geschichte, wie die Erzählung mit dem gewitzten Titelhelden Aladin (andere Schreibweisen: Aladdin oder auch Ala ad-Din) in die bekannteste orientalische Märchensammlung Eingang fand, ist abenteuerlich. Jeder verbindet Aladin heute ganz selbstverständlich mit „1001 Nacht“, doch der Weg in die Weltliteratur war wohl etwas komplizierter.

Aladin wird als ein junger Mann in China beschrieben. Woher auch immer die Geschichte ursprünglich stammt, in die Märchensammlung „Tausendundeine Nacht“ kam sie wohl erst durch eine europäische Übersetzung: Der französische Orientalist Antoine Galland (1646 – 1715) übersetzte u.a. eine alte arabische Handschrift alf laila wa-laila , der älteste erhaltene arabische Text von „Tausendundeine Nacht“, der allerdings nach der 282. Nacht abbricht. Weder Aladin, noch die ebenso bekannten Figuren Sindbad und Ali Baba kommen in dieser Handschrift vor. Galland ergänzte wohl einfach diese Geschichten, die er aus einer anderen Quelle übersetzt hatte (wahrscheinlich von dem aus Syrien stammenden Märchenerzähler Hanna Diyab, der mit einem Händler in Paris weilte). In seiner Übertragung „entschärfte“ Galland außerdem die orientalischen Erzählungen, die ja für ein erwachsenes Publikum gedacht waren, er tilgte oder veränderte all zu erotische oder auch religiöse Passagen.

Diese französische Übersetzung und Überarbeitung prägte nicht nur das Orientbild in Europa. Paradoxerweise wurden Rückübersetzungen ins Arabische auch im arabisch-persischen Kulturraum populär und beeinflussten in ihren europäisierten Versionen wiederum die dortigen Traditionen. Ein schönes Beispiel für die Wechselwirkungen des Kulturaustauschs.

Die schönsten Märchen aus 1001 Nacht / von Angelika Lukesch und Kathrin Treuber. Esslinger-Verlag

Wir erleben Aladin heute auf der Bühne im Umfeld der ganzen bunten Orientromantik mit Sultan, Wesir, Dschinn und Zauberer, mit fliegendem Teppich und all dem Märchenzauber aus 1001 Nacht. In der Kinderbibliothek bieten wir unterschiedliche Medien zum Lesen und Hören: Bilderbücher, Geschichten zum Vorlesen, Sammlungen mit mehreren Geschichten aus „1001 Nacht“ (Aladin gehört fast immer dazu), Hörbücher und eBooks (hier eine Auswahl aus unserem Katalog, nur mit den Stichworten „Aladin Wunderlampe“ gefunden), natürlich auch die berühmten Disney-Zeichentrickfilme.

Sehr schön zum Vorlesen einer Bildergeschichte vor einer kleineren Gruppe eignet sich übrigens das Erzähltheater Kamishibai, auch dafür gibt es Bildkarten zu „Aladin und die Wunderlampe“ in der Kinderbibliothek.

Aber auch für Erwachsene gibt es wunderbare Ausgaben zu „Tausendundeine Nacht“. Mehr dazu ein anderes Mal.

HilDa

Karen Duve und Grimms Märchen

Das Buchcover zeigt einen schwarzen Scherenschnitt vor blauem Hintergrund: eine Jagdszene, bei der mehrere Tiere in einen Abgrund stürzen

Fräulein Nettes kurzer Sommer / von Karen Duve

Gerade geht die Eröffnungsveranstaltung zu den Literaturtagen Bielefeld zu Ende. Karen Duve las aus ihrem neuen Bestseller-Roman „Fräulein Nettes kurzer Sommer“ und erzählte von den interessanten Recherchearbeiten und der dichten Quellenlage rund um Annette von Droste-Hülshoff und ihre Zeit. Dabei tauchen auch die Brüder Grimm auf. Annette war über die Familie von Haxthausen aus dem Paderborner Land (ihre Mutter war eine geborene von Haxthausen) früh mit den Märchensammlern bekannt. Im Roman schreibt Karen Duve dazu offenbar witzige Dialoge und Szenen. Allein dafür gehört das Buch jetzt auf meine Leseliste.

Karen Duve hatte bereits im Grimm-Jahr 2012 ihre eigenen Versionen zu einigen Märchen der Brüder Grimm veröffentlicht, eine Sammlung, die mir offenbar viel Spaß gemacht hat, jedenfalls habe ich damals dies dazu notiert:

Das Buchcover zeigt den Kopf eines zähnefletschenden Wolfes

Grrrimm / von Karen Duve. –

Man kann die Volksmärchen á la Grimm noch vage erkennen: Karen Duve hat vier der bekanntesten Geschichten (plus eine eher weniger geläufige) aus der Sammlung der Brüder Grimm ausgewählt und erzählt sie komplett neu – ganz ohne romantischen Schnickschnack, frivol, frech, gegen den Strich gebürstet, ohne Happy End. Nicht gerade Gute-Nacht-Geschichten für die lieben Kleinen! Die phantastisch-düstere Welt ist brutal und gnadenlos. Es gibt nicht Gut und Böse; die Figuren sind boshaft und verschlagen. ALLE!

Eine Geschichte wird z.B. aus der Perspektive eines fiesen bösartigen kleinen Goldgräbers erzählt, der mit sechs anderen Kumpel im Wald in einem Bergwerk arbeitet. Eines Tages kommt eine bildhübsche Frau zur einsamen Hütte und behauptet, eine echte Prinzessin auf der Flucht vor ihrer bösen Stiefmutter zu sein. Wer’s glaubt! Sicher eine Hochstaplerin.
Aber Sie glauben, Sie kennen diese Geschichte? Oh nein, so jedenfalls nicht!

Hier die Katalogdaten zu Buch und Hörbuch von „Grrrimm„.

HilDa

Winterzeit ist Märchenzeit #4

Der Rattenfänger von Hameln

Moment – das ist doch gar kein Märchen, sondern eine Sage! Das ist richtig. Doch die Brüder Grimm, um die es in den vergangen Beiträgen ging, brachten neben ihrer Sammlung der Kinder- und Hausmärchen eine bedeutende Sammlung von Sagen aus dem deutschen Sprachraum heraus. Die Erstauflage erschien 1816 und 1818 in 2 Bänden mit insgesamt 579 Sagen. Hameln liegt an der Weser zwischen Bielefeld und Hannover, und damit ist der Ort des Geschehens gar nicht mal so weit weg.

Rattenfängerbrunnen in Hameln

Sagen haben meistens einen wahren Kern. Der Auszug der Hamelner Kinder wird mit den Auswanderungswellen im Hochmittelalter Richtung Osten in Zusammenhang gebracht. Damit dürfte es sich vorwiegend um junge Erwachsene gehandelt haben, die in ihrer Heimat keine Perspektive sahen. Für diese Theorie sprechen Orte in Brandenburg und der Uckermark, deren Ortsnamen aus der Hamelner Region stammen könnten. Auswanderer neigen dazu, neu gegründete Siedlungen nach Orten ihrer Heimat zu benennen.

In der Nähe von Templin liegt das Dorf Hammelspring. Eine Angabe ist, dass der Ort von Conrad II. de Hamelspring und seinem Halbbruder gegründet wurde. Hamelspringe liegt 20km nördlich von Hameln. Eine andere Quelle nennt eine spätere erste urkundliche Erwähnung als Havelspryng. Die Havel entspringt aber nicht in Hammelspring, sondern in Mecklenburg. Die bekannteste Stadt dort dürfte Kratzeburg sein. Gut 75 km von Hammelspring entfernt. So war der Rattenfänger womöglich ein Werber, welcher der Jugend eine Perspektive versprach.

Die Rattenfänger-Sage in verschiedenen Buchbearbeitungen

 

Der Rattenfänger ist eine der bekanntesten Sagen. Das Motiv findet vielfach in Film und Musik Verwendung. 1879 komponierte Viktor Nessler die Oper „Der Rattenfänger von Hameln“, Günther Kretzschmar eine Kantate für Kinder mit dem selben Titel. Abba interpretierte die Sage mit „The Piper“ auf dem Album „Super Trouper“ und aus der Mittelalterszene Saltatio Mortis mit „Rattenfänger“ auf „Zirkus Zeitgeist“. In Extremo’s „Der Rattenfänger“ von dem Album „Sünder der Zügel“ orientiert sich sehr nah an der Sage.

 

Die Rattenfänger-Sage in Film- und Musikbearbeitungen

Eine der neuesten Verfilmungen ist „Die Toten von Hameln“. Eine Schülergruppe fährt für einen Chorauftritt nach Hameln. Auf der Fahrt beschäftigen sich die Jugendlichen mit der Sage. Während ihres Aufenthalts unternehmen sie eine Wanderung über den Ith, in den der Rattenfänger seinerzeit die Kinder geführt haben soll. Ein Teil der Gruppe verschwindet in einer Höhle. Auf der Fahrt und während der Suche brechen bei der Chorleiterin und Bewohnern Hamelns alte Wunden auf… Ein sehr spannender Film, mit schöner Kulisse der Landschaft und der Hamelner Innenstadt selbst.

Juliane

Winterzeit ist Märchenzeit #3

Die Bremer Stadtmusikanten

Die Bremer Stadtmusikanten / illustriert von Bernadette

Für ein privates Vorhaben benötigte ich Informationen und vor allem Bildmaterial zu dem Märchen „Die Bremer Stadtmusikanten“. Zum Glück bin ich ja regelmäßig in einer großen Bibliothek 😉und wurde dort fündig. So fündig, dass dieser Beitrag vielleicht etwas bildlastig wird.

„Die Bremer Stadtmusikanten“ ist eines der beliebtesten Märchen der Brüder Grimm. Als Quelle nennen sie in ihren Anmerkungen „aus dem Paderbörnischen“, es stammt also hier aus unserer Heimatregion, übermittelt von der Familie von Haxthausen, so zumindest der Stand in der Märchenforschung.

Die Bremer Stadtmusikanten / illustriert von Gerda Muller

In der ersten Auflage der „Kinder- und Hausmärchen“ war die Geschichte allerdings noch gar nicht enthalten. Erst seit der zweiten Auflage 1819 gehört die Tierfabel zum Grundbestand der Grimm’schen Sammlung als KHM 27 und wurde dann 1825 von Wilhelm Grimm auch als eines der 50 schönsten Märchen für die Kleine Ausgabe ausgewählt. Heute fehlt es in kaum einer Märchensammlung. Viele Illustratoren haben sich dem Thema gewidmet und so fand ich sehr verschiedene Bilderbücher in unserem Bibliotheksbestand.

Die Bremer Stadtmusikanten / von Marko Simsa und Doris Eisenburger

Die Märchenbilder von Bernadette (Bernadette Watts) sind schon Klassiker. Die niederländische Künstlerin Gerda Muller hat die Geschichte ebenfalls fabelhaft illustriert. Das Konzept der Musikbilderbücher von Doris Eisenburger und Marko Simsa ist besonders reizvoll, da kann man (vor-)lesen, schauen und mitsingen. Und dann ist da noch Janosch, der nicht nur frech-ironische Bilder zum Märchen liefert, sondern die Geschichte auch auf seine ganz eigene Art erzählt. Im Buchhandel fand ich ein Bilderbuch illustriert von Markus Lefrançois, bei dem mir schon die Umschlaggestaltung mit ihren vielen Details gefiel – kam gleich in meine private Märchensammlung.

Die Bremer Stadtmusikanten / illustriert von Markus Lefrançois

Hier unsere Katalogdaten zu den genannten Bilderbüchern:

 

„Die Bremer Stadtmusikanten“ waren schon einmal Thema eines interkulturellen (Schüler-)Projektes in unserer Bibliothek; aber dass wir so viele Ausgaben in den unterschiedlichsten Sprachen haben, war für mich doch eine Überraschung: Das Janosch-Bilderbuch gibt es in Englisch, Französisch, Niederländisch, Türkisch, Chinesisch, Russisch; dann gibt es zweisprachige Ausgaben von „The Buskers of Bremen“ von Henriette Barkow in Englisch/Albanisch sowie Vietnamesisch, Persisch, Serbo-Kroatisch, Russisch.
All das findet Ihr in unserer Interkulturellen Bibliothek, ebenso die Mappe „Die Bremer Stadtmusikanten in 20 Sprachen; ein Beitrag zum interkulturellen Unterricht“ (mit einer ausführlichen Einleitung und mit Anregungen für den Unterricht).

Die Bremer Stadtmusikanten / von Janosch (mehrsprachig)

The Buskers of Bremen / von Henriette Barkow (mehrsprachig)

Die Bremer Stadtmusikanten in 20 Sprachen

 

 

 

 

 

 

Die Bremer Stadtmusikanten als Graffito

Graffito beim DRK-Kita Weltweit

Das schönste Bild zu den Bremer Stadtmusikanten fand ich übrigens zu meiner Überraschung bei einem Spaziergang ganz in der Nähe der Stadtbibliothek vor einem Kindergarten im Ostmannturmviertel. Man muss also nicht extra nach Bremen fahren. Obwohl – das Stadtmusikanten-Denkmal vor dem Rathaus (von Gerhard Marcks) und ganz besonders die fröhlich-bunte Skulptur in der Stadtbibliothek Bremen möchte ich schon einmal vor Ort sehen.

hilda

 

Winterzeit ist Märchenzeit #2

Grimms Märchen, wie wir sie nicht kennen

Sie waren nicht die einzigen, nicht einmal die ersten Märchensammler, aber sie wurden die weltweit berühmtesten. Jeder kennt die Märchen der Brüder Grimm. Oder etwa nicht?

Kinder- und Hausmärchen, illustrierte Ausgabe

Grimms Märchen / hrsg. von G. Jürgensmeier

In insgesamt drei Bänden „Kinder- und Hausmärchen“ (KHM) veröffentlichten Jakob und Wilhelm Grimm zwischen 1812 und 1857 über 200 Märchen einschließlich verschiedener Versionen, Anmerkungen und (leider nur sehr spärlichen) Quellenangaben. Und nein, ich habe (noch) nicht alle Märchen gelesen, kenne viele nicht einmal dem Namen nach. Wie wäre es mit „Der Hund und der Sperling“ oder „Die Nelke“, „Der Hahnenbalken“ oder „Die schöne Katrinelje und Pif Paf Poltrie“. Selbst bei bekannten Märchen erlebe ich so manche Überraschung.

Nehmen wir gleich das erste, KHM Nr.1: „Der Froschkönig oder Der eiserne Heinrich“. Schon den im Titel anklingenden Heinrich, den treuen Diener des verzauberten Prinzen, kennen viele gar nicht mehr. Und wie ist es mit dem berühmten Höhepunkt der Geschichte? Die zickige Prinzessin küsst angeekelt den glibberigen Frosch und *peng* …  🐸💥🤴
Tja, aber so steht das bei den Grimms eben nicht, in keiner einzigen Version (Wilhelm Grimm feilte für jede neue Ausgabe an Sprache und Ausdruck). Tatsächlich wirft das undankbare Prinzesschen den Frosch mit aller Kraft an die Wand, was jedes normale Tier nicht überlebt hätte, doch *peng*… – der Rest ist wieder bekannt:🐸💥🤴…
In den Anmerkungen wird noch eine andere Variante des Märchens aufgeführt, die sogar eine Art Fortsetzung hat, in der ist der Prinz plötzlich der Schuft: Er wird noch vor der Hochzeit untreu; die Prinzessin folgt ihm als Reiter verkleidet und benimmt sich ganz undamenhaft. Na, neugierig? Nachzulesen in Band 3 der Großen Ausgabe der Kinder- und Hausmärchen.

Eine ganz besondere Überraschung war für mich das Märchen KHM 142. Mein Großvater war ein wunderbarer Geschichtenerzähler, natürlich gehörten auch Märchen zu seinem Repertoire. Mir sind seine Eigenkreationen leider nicht in Erinnerung geblieben, aber eine seiner Geschichten war eine seltsame Variante eines bekannten Motivs aus „1001 Nacht“, allerdings als deutsches Märchen erzählt. Ich hatte das für eine dieser eigenwilligen Erfindungen meines Opas gehalten, doch tatsächlich erzählte er wohl „Simeliberg“ nach, zu finden in Band 2 der Kinder- und Hausmärchen. Auch die Grimms bemerkten übrigens die merkwürdige Übereinstimmung mit „dem orientalischen von den vierzig Räubern“ (also der Ali-Baba-Geschichte).

Grimms Märchen, wie wir sie wohl doch nicht kennen. Sie sind das meistübersetzte und weltweit bekannteste Werk der deutschen Literaturgeschichte. Da sollten wir vielleicht einmal genauer lesen und uns nicht nur an einer Disney-Verfilmung, der sonntäglichen ARD-Reihe „6 auf einen Streich“ oder einer modernen Bilderbuchbearbeitung erfreuen. Bekam „Aschenputtel“ ihre Ballkleider nun durch drei Zaubernüsse oder betete sie am Grab der Mutter? Wusstet Ihr, dass „Hänsel und Gretel“ am Ende Hilfe von einer weißen Ente erhalten? Und wer weiß, was bei „Tischchendeckdich, Goldesel und Knüppel aus dem Sack“ aus der verlogenen Ziege wird?

Wem die Große Ausgabe mit all den Anmerkungen zu wissenschaftlich ist: Die Grimms veröffentlichten ab 1825 auch eine Kleine Ausgabe mit einer Auswahl von 50 Märchen – die eigentliche Grundlage ihrer Popularität; die Kleine Ausgabe erreichte noch zu Lebzeiten der beiden Brüder zehn Auflagen. Heute sind unzählige verschiedene Ausgaben auf dem Markt (und natürlich auch in unserer Bibliothek); einzelne Märchengeschichten sind als Bilderbuch veröffentlicht, Märchensammlungen bieten meist eine Auswahl; es gibt an die heutige Sprache angepasste Versionen, kindgerechte Überarbeitungen, moderne Fassungen und herrliche Parodien.

Kinder- und Hausmärchen, 3 Bände

3-bändige Reclam-Ausgabe der Kinder- und Hausmärchen

Doch ich empfehle wenigstens einmal auch einen Blick in die Große Ausgabe: Muss man nicht komplett lesen, aber stöbert einfach mal durch Eure Lieblingsmärchen und lest die Anmerkungen dazu. Es gibt erstaunlich viel zu entdecken.

Wer mehr über die Quellen der Brüder Grimm zu ihrer Volksmärchensammlung erfahren möchte: Der bekannte Märchenforscher Heinz Rölleke hat im Grimm-Jahr 2012 in der ZEIT eine erhellende Zusammenfassung neuerer Erkenntnisse gegeben: Was uns die Brüder Grimm nicht verraten wollten.

Verwendete Ausgaben der Kinder- und Hausmärchen:

Kinder- und Hausmärchen / Jacob u. Wilhelm Grimm. – Jubiläums-Ausgabe. – Stuttgart : Reclam. – Bd. 1 – 3.
Bd. 1. Märchen : Nr. 1 – 86. – 1984. – 419 S.
Bd. 2. Märchen : Nr. 87 – 200. Kinderlegenden : Nr. 1 – 10. Anhang : Nr. 1 – 28. – 1984. – 528 S.
Bd. 3. Originalanmerkungen. Herkunftsnachweise. Nachwort. – 1984. – 624 S.
Standort: Märchen Grim (Online-Katalogdaten, auch zur Neuauflage von 2020 hier)

Grimms Märchen / Jacob u. Wilhelm Grimm. Hrsg. von Günter Jürgensmeier. Mit Bildern von Charlotte Dematons. – Düsseldorf : Sauerländer, 2007. – 559 S. : zahlr. Ill. (farb.)
Standort: Märchen Grim (Online-Katalogdaten hier)

Hilda