Buchtipp: „Becoming“ von Michelle Obama

Was erwartet man von einem Buch aus der Feder einer ehemaligen First Lady? Ich hatte vor einiger Zeit die Autobiografie von Hillary Clinton („Gelebte Geschichte“) gelesen, oder besser gesagt – manchmal „durchgeackert“, weil es mir stellenweise zu viel Politik war, zu viele Namen von diesem und jenem Berater, als dass man sich sie merken kann. Aber so ist es eben. 🙂

Bei Michelle Obama war es irgendwie anders. Ob es an der Besonderheit liegt, dass sie die erste nicht-weiße Familie im weißen Haus waren oder weil es einfach lockerer geschrieben ist … – das Gesamtpaket stimmt einfach.

Michelle Obama nimmt uns mit in ihre Kindheit, sie lässt uns teilhaben an dem Familienalltag. Sie erzählt von ihrer Schulzeit bis hin zum fatalen Satz der Studienberaterin, die meinte, Michelle sei „kein Material für Princeton“. Nun ja, die Dame lag falsch. Und wie traf sie auf Barack? Sie arbeitete in einer Kanzlei, er war noch Student und arbeitete dort während des Sommers. Michelle war seine Mentorin. Der Rest ist Geschichte. 🙂

Liebevoll berichtet sie über die Marotten ihres späteren Ehemanns und spart auch die anstrengende Zeit nicht aus, in der sie mit den beiden Töchtern quasi allein lebte, zwischen den Kindern und ihrem Job hin- und hergezerrt wurde und Barack nur am Wochenende zuhause bei der Familie war. Sehr spannend fand ich die Geschichten, als es ernst wurde und die großen wichtigen Wahlkampfreden für die Präsidentschaftswahl anstanden. Dass sie alle auf die Bühne mussten und sie einmal in letzter Minute aufgrund der eisigen Temperaturen vor Ort in einem Geschäft noch Wintermützen für die beiden kleinen Mädchen gekauft hatte. Herrlich. Sorgen einer ganz normalen Mama. Auch, dass bei der Vereidigung ihres Mannes auf der Tribüne ihre Füße trotz Decke ziemlich eingefroren waren und sie deshalb bei der zweiten Vereidigung vier Jahre später für eine beheizte Tribüne gesorgt hat, wusste ich nicht.

Ich liebe es, Hintergrundinfos aus erster Hand zu erfahren und war echt erstaunt, als sie berichtete, was die Personenschützer vom Secret Service alles geleistet haben und wieviel an Planung und Absprachen nötig waren, damit eine der Töchter spontan mit einer Freundin ein Eis essen gehen konnte. (Als alles geregelt war, war die Sache dann nicht mehr so spontan.) Als sie sich halbwegs an all den Medienrummel und ihre Bewacher gewöhnt hatte, ist sie sogar in einen Kurs im Fitnessstudio gegangen. Sie kam als letzte dort an, schlüpfte zur Tür hinein und stellte sich in die letzte Reihe. Als der Kurs dem Ende zuging, entfleuchte sie schnell, bevor sich die anderen umdrehen konnten. Barack war schon neidisch, sagte er doch einmal lächelnd „Schatz du weißt doch – ‚heimlich‘ kann ich nicht mehr.“ 😉

Mir fiel es schwer, das Buch aus der Hand zu legen bzw. den ebook-Reader auszuschalten. Am liebsten hätte ich es in eins durchgelesen. Man muss nicht politisch interessiert sein – ein Vorteil gegenüber Hillary Clintons Buch. Es ist toll geschrieben, man merkt, mit wieviel Herzblut Michelle ihre Projekte angeht. Sie lässt auch die Anfeindungen nicht aus, die sie aufgrund ihrer Hautfarbe erfährt und zeigt uns Lesern, was die Medien aus Auftritten und Interviews machen. Zum Beispiel schreibt sie über zusammengestückelte Fernsehbeiträge oder Schlagzeilen, die eine ganz andere Botschaft transportierten, als es in der Realität war. Es macht einen traurig und man möchte diese große, starke Frau am liebsten in den Arm nehmen. Anschaulicher geht es kaum. Aber das, was man als Leser kontinuierlich von der ersten Seite an spürt, ist die unglaubliche Wärme und Liebe, die diese tolle Familie umgibt.

Eine klare Leseempfehlung!!!

kwk

Deutsche Auswanderer

Neulich stieß ich auf ein interessantes Heft mit dem Thema „Deutsche Auswanderer“. Wir alle kennen Berichte von Deutschen, die in Amerika ihr Glück versuchen wollten, auch die Ansiedlung von Deutschen an der Wolga durch Zarin Katharina der Großen ist uns bekannt. Wie wir alle wissen, lenkte im 20. Jahrhundert die dunkle Seite der deutschen Geschichte auch die Ströme der Auswanderer – Jüdinnen und Juden mussten vor dem NS-Regime fliehen, nach 1945 entkamen NS-Täter nach Übersee und von 1961 an trieb die Sekte Colonia Dignidad in Chile ihr Unwesen.

Ich möchte nun aber näher auf die Menschen eingehen, deren Namen uns bekannt sind. Von manchen wusste ich gar nicht, dass sie deutsche Wurzeln haben. Lasst euch überraschen! Beginnen möchte ich mit dem Bereich Politik und Wirtschaft:

  • Tatsächlich war der US-Präsident Dwight D. Eisenhower (1890-1969) deutscher Abstammung. Sein Familienname wurde wie so viele anderen auch mit der Zeit anglisiert. Hans Nikolaus Eisenhauer war 1741 aus dem Saarland nach Amerika gekommen. Die Familie gehörte zu den „Pennsylvania Dutch“.
  • Auch der Nachname „Hoover“ kommt von hier. US-Präsident Herbert Hoover 1874-1964 und FBI-Mitbegründer J. Edgar Hoover kommen aus Familien namens „Huber“.
  • Lidia Gueller schrieb Geschichte – die Politikerin mit deutschen Vorfahren wurde die erste Präsidentin von Bolivien. Ihre Amtszeit währte nur kurz, durch einen blutigen Putsch verlor sie ihr Amt.
  • Adolph Simon Ochs (1858-1935) war der Spross armer deutscher Auswanderer. Er schlug sich als Zeitungsjunge durch, lieh sichmit 19 Jahren 250 Dollar und kaufte sich eine Provinzzeitung, die er dann herausgab. 19 Jahre später bekam er den Tipp die „New York Times“ sei billig zu haben. Und so kam es, das die Familie Ochs-Sulzberger heute immer noch ihre Herausgeber sind.
  • Johann Jakob Astor (1763-1848) – er wurde durch Pelzhandel und Grundstückskäufe zum ersten Selfmade-Multimillionär und reichsten Amerikaner seiner Zeit. Er war das sechste von 12 Kindern seines gleichnamigen Vaters, eines Metzgers aus Walldorf nahe Heidelberg. Nun wissen wir auch, weshalb das Hotel Waldorf-Astoria heißt, nicht wahr? Als Astor 1848 starb, war er der wahrscheinlich reichste Mensch der Welt mit einem Vermögen von ca. 20 Millionen Dollar. Per Testament vermachte er einen Teil davon unter anderem dem Aufbau der öffentlichen Astor Library, die später zu einem Grundstein der New York Public Library wurde.
  • Johann Peter Rockenfeller aus Neuwied wanderte 1732 nach Amerika aus. Jetzt klingelt es vermutlich schon bei den meisten. Doch der erste Spross der Familie, aus dem etwas wurde (unter anderem der wohl reichste Amerikaner aller Zeiten) wurde 1839 geboren und hieß John. Umgerechnet auf heutige Werte besaß er 253 Milliarden Dollar.

Die Liste ließe sich noch weiter fortsetzen. Aber ich möchte nur noch kurz erwähnen, das der Vater von William Boeing noch Wilhelm Böing und Herr Chrysler einst Kreißler hieß. Henry John Heinz (Ketchup) und Jeans-Erfinder Levi Strauss ließen ihre Namen unverändert.

Weiter geht’s mit dem Adel.

Im Hochadel gehörte die Auswanderung einst quasi zur Jobbeschreibung. Man lebte eben dort, wohin man verheiratet wurde. So verschlug es die deutsche Prinzessin Sophie Auguste Friederike von Anhalt-Zerbst-Dornburg (1729 – 1796) aus dem überschaubaren Stettin im Jahre 1745 ins weniger überschaubare Zarenreich. Und dort auf den Thron. Geschichte schrieb sie als Katharina die Große, nachdem sie ihren eigenen, ebenfalls aus Deutschland importierten Ehemann Peter III alias Karl Peter Ulrich von Schleswig-Holstein-Gottorf per Staatsstreich hat absetzen lassen. Was auch immer ihm zustieß, er hat es nicht überlebt.

Auch das Haus Windsor entstammt Deutschland. seit 1714 wird Großbritannien von Nachkommen deutscher Auswanderer regiert. bis 1901 entstammten sie dem Haus Hannover, einem Nebenzweig der Welfen. Eduard VII (1841-1910) kam väterlicherseits aus dem Haus Sachsen-Coburg und Gotha, was im ersten Weltkrieg zunehmend peinlich wurde. Georg V. (1856-1936) änderte deshalb den Familiennamen zu „Windsor“.

Und als letzte Station – ein Abstecher in die Welt der schönen Künste:

  • Frida Kahlo (1907-1954) ist Lateinamerikas berühmteste Künsterlin und Tochter von Carl Wilhelm Kahlo. Dieser wanderte 1890 nach Mexiko aus.
  • Georg Friedrich Händel (1685-1759) stand eigentlich beim Kurfürst von Hannover unter Vertrag, hielt sich aber nie lange dort auf. Stattdessen kam er vom letzten London-Trip einfach nicht mehr zurück. Es ist wohl kein Versuch vom Kurfürst dokumentiert, ihn an seine Verpflichtung in Hannover zu erinnern. Stattdessen folgte ihm der Dienstherr – der Kurfürst wurde 1714 als Georg I. von Großbritannien gekrönt.  In seinem Auftrag komponierte Händel später die berühmte Wassermusik, die bei einem Fest auf der Themse 1717 gespielt wurde.

Bei uns findet ihr die Zeitschrift hier.

kwk

Buchtipp: Unsterblich sind nur die anderen

Simone Buchholz war mir als Krimiautorin ein Begriff, allerdings hatte ich bisher noch keines ihrer Bücher gelesen. Ihr neuer Roman sei keinem Genre eindeutig zuzuordnen – das hatte mich neugierig gemacht; ein Spontankauf, ohne dass ich viel mehr über das Buch wusste. Bei Twitter las ich viel Lob von begeisterten Leserinnen. Aber da war auch dieser Hashtag #Segelsexbuch. Puh, das hätte mich fast wieder abgeschreckt. Nicht weil ich etwas gegen Segeln hätte. Der Hashtag klang für mich einfach albern, auch als ich die Anspielung endlich begriff (ein anderes Buch hatte einige Monate vorher den Hashtag #Bärensexbuch erhalten – ach, nun ja, Twitter-Literaturbubble-Humor, muss man jetzt nicht weiter ausführen). Zumindest ins Buch hineinschauen wollte ich mal, dann konnte ich es ja immer noch der Bibliothek schenken. 😉

Roman "Unsterblich sind nur die anderen" von Simone Buchholz steht auf einem alten Frisiertisch, angelehnt an eine weiße Keramik-Schüssel, in der eine Kanne im gleichen Design steht. Auf der Kanne  und damit über dem Buch liegt eine Mütze einer Marine-Uniform

Was soll ich sagen: Wenn man einmal anfängt, muss man es auch bis zum Ende lesen! Die seltsame Geschichte packte mich sofort. Und mir gefiel diese Mischung aus Umgangssprache – es gibt viele Dialoge – und originellen Beschreibungen. Ich habe ja schon viel über Sonnenuntergänge oder Stürme oder ja auch Erotisches gelesen. Aber Simone Buchholz findet ganz neuartige Metaphern, schreibt in einem lakonischen Ton und kann mit nur wenigen Worten durch Bilder, Gefühle, wilde Gedankengänge führen, noch dazu mit Humor. Das wirkt lässig, quasi mit der Zigarette im Mundwinkel. (Da wird wirklich viel geraucht und getrunken im Roman.😊)

Tatsächlich ist jedes Wort wohl überlegt. Für die Parallelwelt der Göttinnen wählt die Autorin eine eigene, äußerst reduzierte Form, fast lyrisch. Dem Kapitän gibt sie eine Stimme mit seinen persönlichen Logbucheinträgen, kurz und knapp, wie Logbücher halt so sind, aber mit melancholischem Einschlag. Den dramatischen Höhepunkt inszeniert sie buchstäblich als Theaterstück in 3 Akten. Und wer jetzt glaubt, das Ganze sei aber sehr konstruiert: Nein, das ist süffig geschrieben! Ein Unterhaltungsroman im besten Sinne.

Über den Inhalt möchte ich am Liebsten gar nichts verraten. Es beginnt mit einem Buddelschiff. Dann reisen zwei Frauen auf der Suche nach einigen vermissten Männern mit einem Dampfschiff von Dänemark über die Färöer-Inseln nach Island. Und 14 Tage später …

Ja, Dampfer, aber es wird eben auch gesegelt oder so! Kapitän und Göttinnen, Zigaretten und Drinks, stürmische Überfahrt und Parallelwelten? – Ich fürchte fast, ich habe mit diesen Stichworten doch schon zu viel erzählt. Oder seid Ihr verwirrt? Ach, wer wäre das nicht, wenn er die Wahl hätte zwischen der Unsterblichkeit oder der Liebe. Wie würde der Fliegende Holländer heute entscheiden, wenn er denn frei entscheiden dürfte? Wie würdet Ihr entscheiden? Und wie, wenn es gar nicht mal um Eure Liebe geht, sondern …

Uff, nein. Lest selbst. Unsere Exemplare (Print und eBook) findet Ihr hier.

Ist es Fantasy, ist es ein modernes Märchen, ist es schon Magischer Realismus? Egal, dieser seltsame Roman ist kurzweilige Unterhaltung mit Anspruch.

Und ich sehe jetzt Buddelschiffe mit ganz anderen Augen. 🤩

Viel Freude beim Lesen
HilDa

Buchtipp: Die Amazonen

Seit der Schulzeit interessiere ich mich für Mythologie; meine Geschichtslehrerin in der 5. und 6. Klasse konnte wunderbar die antiken Sagen nacherzählen – der spannendste Geschichtsunterricht ever. Daher dachte ich bisher, ich würde die meisten Geschichten aus der griechischen Sagenwelt zumindest grob kennen. Aber über die Amazonen wusste ich bisher erstaunlich wenig. Ein Volk von Kriegerinnen in einer Männerwelt. Den Namen der Königin Penthesilea hatte ich schon mal gehört: Sie war im Trojanischen Krieg gefallen, und dann gibt es da noch ein gleichnamiges Drama von Heinrich von Kleist.

Aber was ist der Ursprung dieses Kriegerinnenvolks? Gab es für die alten Griechen ein reales Vorbild für den Mythos, vielleicht ein Reitervolk aus den asiatischen Steppen, in dem tatsächlich Kriegerinnen zu Pferde kämpften? Und warum wurde ausgerechnet der südamerikanische Strom Amazonas nach den kriegerischen Frauen benannt?

Tablet mit dem Titelbild des Sachbuchs "Die Amazonen: Töchter von Liebe und Krieg" von Hedwig Appelt, Theiss-Verlag

Hedwig Appelt gelingt mit ihrem Buch „Die Amazonen“ etwas für mich ganz Unerwartetes: ein ausgesprochen unterhaltsames Sachbuch. Sie erzählt – eben so wie meine alte Geschichtslehrerin, die mich einst für die Sagenwelt begeisterte. Sie erzählt die alten Sagen lebendig und spannend mit ihren Worten nach. Dabei verwirrt sie uns nicht mit den verschiedenen Variationen und Auslegungen, die die Sagenstoffe im Laufe der Jahrhunderte durch die mündliche Überlieferung und durch Dichter wie Homer, Hesiod und all die anderen erhalten haben. Die Autorin erzählt von den Königinnen Hippolyte, Penthesilea und Thalestris, aber auch von ihren männlichen Gegnern Herakles, Theseus, Achill und Alexander dem Großen, von den olympischen Göttern, ihren Machtkämpfen und Intrigen, von den Liebesgeschichten, den Kriegen und Schlachten. Hedwig Appelt spannt den Bogen von der Sagen- und Mythenwelt zu den historischen Quellen und zur Archäologie bis hin zur Popkultur heute, wo die Amazonen vor allem in Fantasy, Science Fiction und Comic lebendiger sind denn je. Und ausgerechnet im Namen eines Internet-Konzerns nun die Welt erobern.

Das Buch vertraut ganz auf das Erzählen, auf die Geschichten, auf das Wort. Es kommt erstaunlicherweise ohne Illustrationen aus, obwohl das Amazonen-Motiv doch über all die Jahrtausende beliebt in der Kunst war und ist: auf griechischen Keramiken, in den Gemälden berühmter Künstler, bei modernen Comiczeichnern oder im Film und Fernsehen. Die Kulturgeschichte der Amazonen in der Bildenden Kunst ist jedoch nicht Thema dieses Buches. Ich habe auch keine Bilder oder Fotos vermisst. Eigentlich ist mir das erst aufgefallen, als ich in unserer Bibliothek noch ein anderes Buch über die Amazonen gesehen habe. Ich denke, auf das Thema komme ich noch mal zurück.🤔

Aber erst einmal zu diesem Sachbuch, das so gut geschrieben ist, dass ich es tatsächlich nicht wieder weglegen konnte (so hatte es der Klappentext auch versprochen, aber wer glaubt schon Werbesprüchen). Ich empfehle es gerne weiter.

Das Buch ist bereits im Jahr 2009 erschienen. Wir haben es als eBook in der OnleiheOWL.

HilDa

Bitte, ein Gedicht #19

Heinrich Heine

Himmel grau und wochentäglich!
Auch die Stadt ist noch dieselbe!
Und noch immer blöd und kläglich
Spiegelt sie sich in der Elbe.

Lange Nasen, noch langweilig
Werden sie wie sonst geschneuzet,
Und das duckt sich noch scheinheilig,
Oder bläht sich, stolz gespreizet.

Schöner Süden! Wie verehr ich
Deinen Himmel, Deine Götter,
Seit ich diesen Menschenkehricht
Wiederseh und dieses Wetter!

(aus: Neue Gedichte)

Okay, nicht Hamburg an der Elbe, sondern Bielefeld am Teuto – aber das Wetter …

Bitte ein Gedicht – das ist Wunsch und Angebot zugleich. In unregelmäßigen Abständen möchten wir gerne zur Lyrik verführen und präsentieren einzelne Gedichte oder weisen auf besondere Lyrikbände aus unserem Bestand hin.

Die Seidenstraße

Kennt ihr die GeoEpoche-Hefte? Ich habe eine Sammlung zuhause und lese sie immer wieder gerne durch. Diese Hefte behandeln immer ein geschichtliches Thema. In diesem Beitrag möchte ich euch ein bisschen mit in den Orient nehmen.

Die Seidenstraße. Was sind eure ersten Gedanken? Karawanen, 1001 Nacht, Orient und Okzident… Man schließt die Augen und sieht sie vor sich – die Kamele, voll beladen mit Seide, Gewürzen und anderen Luxusgütern. Menschen, zum Schutz gegen die Sonne verhüllt in Stoffbahnen, fremde Sprachen und Kulturen. Oasen dienen als Treff- und Rastplätze.

Natürlich denke auch ich so. Aber manchmal muss man eben wieder auf den Boden der Tatsachen zurückgeholt werden. 😉 So auch hier. Habt ihr zum Beispiel an Marco Polo gedacht? Ich nicht. Und dass es eigentlich „Seidenstraßen“, also Plural, heißen müsste? Nö. Dann tauchen wir doch einfach mal hinein in die Geschichte dieses faszinierenden Handelswegs (oder eben der Handelswege, aber ich bleibe dem Titel der Zeitschrift treu).

Der Höfling Zhang Qian wird im Jahr 139 v. Chr. vom chinesischen Kaiser auf eine Mission geschickt. Er soll mit fremden Völkern Kontakt aufnehmen und natürlich Allianzen schmieden. Was der Kaiser nicht ahnt – Zhang Qian gelangt so weit nach Westen wie noch kein anderer Gesandter des Kaisers. Und das wird ihm später den Titel „Vater der Seidenstraße“ einbringen. Die Ära der Seidenstraße ist eingeläutet, denn infolgedessen ziehen immer mehr Gesandtschaften und Händler über die Ost-West-Routen.

Ich habe oben von „Straßen“ gesprochen. Denn es entstand ein Handels- und Kommunikationsnetz, welches nicht „den einen Pfad“ zwischen Ost und West nutzte. Durch politische Spannungen waren manche Wege nicht mehr zu bereisen, aber auch infolge von Sandstürmen, die Oasen austrocknen ließen und ganze Karawansereien unter Sand begruben, wurden zwangsläufig neue Routen erschlossen.

1274 erreicht Marco Polo mit seinem Vater und seinem Onkel die Sommerresidenz eines Enkels Dschingis Khans, der seit einigen Jahren Kaiser von China ist. Der später veröffentlichte Bericht dieser Reise verleitet europäische Schiffsführer dazu, nach einem Seeweg zu den Reichtümern Asiens zu suchen. Die Handelsfreiheit im Mongolenreich wecken das Geschäftsinteresse auswärtiger Kaufleute, wie Marco Polo. 1865 greifen Soldaten des russischen Zaren Taschkent an, die reichste und größte Stadt nordwestlich des Pamir. Bis zum Ende des Jahrhunderts nehmen die Truppen des Zaren das gesamte Gebiet vom kaspischen Meer bis zum Pamir ein. Afghanistan bleibt souverän als „Pufferstaat“ zwischen China, Russland und dem von London beherrschten Britisch-Indien im Süden.

1877 berichtet in Deutschland der Präsident der „Gesellschaft für Erdkunde zu Berlin“, Ferdinand Freiherr von Richthofen, während einer Veranstaltung der Gesellschaft über die „zentralasiatischen Seidenstraßen“. Dieser Vortrag und dessen anschließende Veröffentlichung verbreiten den bis heute gebräuchlichen Namen dieses Kommunikations- und Handelsnetzes.

Im Jahr1893 tritt der Schwede Sven Hedin seine erste eigene Expeditionsreise in das Innere Zentralasien an. Er folgt unter anderem Berichten Einheimischer, die von im Sand versunkenen Orten erzählen. Tatsächlich entdeckt er Ruinen, die vom vergangenen Reichtum der Oasenstädte zeugen. Leider schrecken einige westliche Expeditionsleiter vor dem Raub von Kunstgegenständen und ganzen Bibliotheken nicht zurück. Die Revolutionen 1912 in China und 1917 in Russland lassen zum Beispiel im Emirat Buchara die Hoffnung aufkeimen, wieder unabhängig zu werden. Doch Russland zwingt das Gebiet in die Sowjetunion. Beijing stationiert seine Truppen in der Region Xin-jiang und unterdrückt dort bis heute die Autonomiebestrebungen der heimischen Uiguren. Durch den Zerfall der Sowjetunion entstehen mit Tadschikistan, Usbekistan, Turkmenistan, Kirgistan und Kasachstan wieder souveräne Staaten, auch wenn Russland und China weiterhin großen Einfluss ausüben.

Dann, 2013, verkündet Chinas Präsident die Erschaffung eine „neuen Seidenstraße“. Es entstehen neue Hafenanlagen und Eisenbahnverbindungen, Europa und Asien sollen wirtschaftlich stärker zusammenwachsen. Natürlich liegt es nahe, dass Präsident Xi ganz bewusst auf die Strahlkraft der legendären Handels- und Kommunikationsroute setzt – die Seidenstraße.

Ihr merkt, es ist ganz schön viel passiert. Ich kann sogar noch weiter ausholen: Menschen transportierten schon im 3. Jahrtausend v. Chr. Edelsteine aus dem Hindukusch nach Ägypten, vom Indus nach Siedlungen im heutigen Tadschikistan, aus dem Pamirbecken ins Kernland Chinas. Um 2000 v. Chr. ernähren sich Menschen unter anderem von Weizen, Hirse aus Ostasien sowie Milchprodukten und Weizen aus Westasien. Schon seit der Bronzezeit also betreiben Menschen im Gebiet der Seidenstraße Handel über Land mit Produkten aus der Ferne.

Aber nun Schluss mit den ganzen Jahreszahlen. Kommen wir nun zu ein paar anderen wissenswerten Fakten:

  • die Händler reisten entgegen der häufigen Annahme immer nur einen Teil der Seidenstraße und verkauften in den Knotenpunkten ihre Waren an die Händler der nächsten Etappe.
  • die Kamele der Händler transportierten die Namensgebende Seide, die in China für den Export gefertigt wurde (natürlich in den unterschiedlichsten Qualitäten), aber auch Edelsteine, Pelze, Metalle, Glas, Gewürze, Silber, Früchte, Arzneien, Sklaven und Pferde.
  • die Händler bezahlten oft Ware mit Ware, aber auch Kaurimuscheln wurden akzeptiert.
  • die sogenannten Karawansereien waren ummauerte Herbergen, die Schutz vor Räubern boten; sie waren in relativ kurzen Abständen angelegt, sodass die Händler kein Futter für ihre Kamele mitnehmen mussten und die Lasttiere ausschließlich mit Waren beladen konnten.
  • auch Fortschritte im Schiffsbau trugen dazu bei, dass der Handel auf dem Landweg immer mehr nachließ.
  • über die Seidenstraße verbreiteten sich Erfindungen wie Papier und Schwarzpulver.

Während die Karawansereien und Handelsstädte immer mehr verfielen, blieb das immaterielle Erbe erhalten – die Menschen tauschten unterwegs Geschichten, Lieder sowie philosophische, politische und religiöse Ansichten aus.

Hier findet ihr das Exemplar in unserem Bestand.

kwk

Buchtipp: Ken Follett „Kingsbridge – Der Morgen einer neuen Zeit“

Endlich wieder ein Buch von Ken Follett. Endlich wieder Kingsbridge! Beziehungsweise… das Buch spielt vor dem Bestseller „Die Säulen der Erde“. Das Prequel sozusagen. Wir werden ins England um 997 nach Christus versetzt. Wie bei vielen historischen Romanen werden auch hier wieder verschiedene Personen in die Geschichte eingeführt und die jeweiligen Erzählstränge haben dann im Laufe der Geschichte immer mehr miteinander zu tun:

Nachdem die Wikinger die Stadt Combe heimgesucht und eine Spur der Verwüstung hinterlassen haben, bleibt dem jungen Bootsbauer Edgar und seiner Familie weder ihre Werft noch ihr Heim und sie nehmen in ihrer Not das Angebot an, in einem verlassenen Bauernhof in einem kleinen Weiler namens „Dreng’s Ferry“ fern der Küste heimisch zu werden.

Ragna, ihres Zeichens Tochter eines normannischen Grafen, verschlägt es durch ihre Heirat mit dem Aldermann Wilwulf aus Cherbourg nach Shiring. Ihre pragmatische Art und ihr Gerechtigkeits-Sinn stehen im totalen Gegensatz zu der damaligen Vorstellung, dass Frauen nur für Kind und Heim zuständig sind. Zudem hat ihr Ehemann zwei Brüder, die versuchen, ihre Position durch ständige Intrigen zu schwächen. Einer der Brüder ist Bischof Wynstan, der sehr gut geschrieben ist und mich beim Lesen des Öfteren zur Weißglut bringt.

Der Mönch Aldred begegnet Ragna in Cherbourg, wo er ein paar kostbare Bücher erstanden hat. Die beiden treffen sich in England wieder. Durch unglückliche Umstände wird Aldred nach „Dreng’s Ferry“ versetzt. Er, Edgar und Ragna bilden das „gute“ Gespann der Geschichte. Und dann gibt es auch noch „Ironface“, der in den Wäldern rund um den kleinen Weiler sein Unwesen treibt…

Leider erfährt man nicht viel über Sitten und Gebräuche der damaligen Zeit, einzig das Rechtssystem wird deutlicher hervorgehoben. In typischer Follett-Manier gibt es hier Gut gegen Böse und mit Ragna auch wieder eine starke weibliche Figur. Alle, die etwas total neues erwartet haben, werden enttäuscht. Ich persönlich finde, die Geschichte reicht sprachlich und vom Tiefgang her leider nicht an sämtliche Nachfolgewerke heran. Aber man kann es trotzdem gut und auch recht flüssig „in eins durchlesen“, was bei über 1000 Seiten allerdings keiner auf einmal tun wird. 😉 Da man weiß, dass es hier um Kingsbridge geht, wartet man natürlich sehnsüchtig darauf, wie Follett dem Ort seinen Anfang gibt. Ich bin noch nicht ganz durch mit der Geschichte, aber habe mittlerweile wohl eine Ahnung, wie es dazu kommen wird.

Man muss „Die Säulen der Erde“ nicht gelesen haben, um diese Geschichte zu verstehen. Sie steht für sich und ist somit auch hervorragend für Neu-Follett-Leser sowie „Kenner“ geeignet. Ein Pluspunkt, oder? 🙂

Hier kommt ihr zu den Exemplaren in unserem Bestand.

Viel Freude beim Lesen! 🙂 🙂 🙂

kwk

Buchtipp: Die kleine Schule der großen Hoffnung

Grenzen|los|lesen
Kanada

Zwei Tage Dienstreise, also zweimal gut 90 Minuten Zugfahrt und eine Hotelübernachtung, dazu evtl. Wartezeiten und die nicht unwahrscheinliche Aussicht auf diverse Verzögerungen bei der Bahn. Da heißt es, ausreichenden Lesestoff dabei zu haben. Der Roman, den ich gerade las, würde nicht mehr lange vorhalten, er war recht kurz und las sich süffig. Aber ein zweites Buch mitschleppen? Nun, da sind eBooks natürlich ideal, der passende Titel war schnell gefunden und heruntergeladen.

Foto von einem Display mit dem Titelbild des eBook "Die kleine Schule der großen Hoffnung", Roman von Naomi Fontaine

In unserer kleinen Reihe Grenzen|los|lesen wollen wir Titel aus anderen Ländern und Kulturen außerhalb der Bestsellerlisten und des sogenannten Mainstream vorstellen. Romane, in denen wir mehr erfahren über das Leben und Denken weit entfernt von unserem eigenen Umfeld. Eine Reise mit zeitgenössischen Romanen um die Welt.

Dass diese Reise nun schon wieder nach Kanada geht, ist kein Zufall. Kanada war 2020/21 Ehrengast der Frankfurter Buchmesse; das ermutigte viele Verlage, auch Werke von hierzulande noch unbekannten Autor*innen zu übersetzen und auf den deutschsprachigen Markt zu bringen. Dass da Richard Wagamese eine echte Entdeckung ist, haben wir hier schon erwähnt. 🤗 Auf der Suche nach weiteren Büchern über Angehörige der First Nations aus erster Hand fiel der Name der jungen Autorin Naomi Fontaine.

Die kleine Schule der großen Hoffnung“ ist bereits der zweite Roman der Autorin, aber der einzige, der bisher ins Deutsche übersetzt wurde. Im Original heißt er „Manikanetish, Petite Maguerite“, was der Name der Schule ist, um die es in dem Buch geht – benannt nach einer Erzieherin am Ort, die von der Ich-Erzählerin auch als ihr großes Vorbild genannt wird. Der deutsche Titel klingt mir zu sehr nach Edel-Kitsch, aber nun ja. Zwar phantasielos ist er doch zumindest treffend: Die kleine Schule in einem Reservat ist der Mittelpunkt für die neue Lehrerin und für die Jugendlichen und jungen Erwachsenen, die trotz aller Widrigkeiten einen Schulabschuss wollen.

Yammie lässt das Stadtleben und ihren Freund Nicolas hinter sich, um im First-Nation-Reservat Uashat als Lehrerin zu arbeiten. Ist sie noch eine Innu, wie die indigene Bevölkerung im Norden der kanadischen Provinz Québec genannt wird, oder ist sie durch Erziehung und Studium der französischen Sprache schon „zu weiß“ geworden? Kann sie als junge Lehrerin den Heranwachsenden, deren Zukunft von Alkohol und Depressionen überschattet ist, Perspektiven bieten? In einem ereignisreichen Jahr wachsen die Schülerinnen und Schüler Yammie ans Herz. Und sie erkennt, dass nicht nur die Jugendlichen reifen, sondern dass auch sie sehr viel von ihnen lernt.
Gefühlvoll und authentisch – dieser ergreifende Roman erzählt vom Leben der Innu, von ihren Sorgen, Ängsten, Sehnsüchten und Hoffnungen.

(Inhaltsangabe Klappentext)
Roman "Die kleine Schule der großen Hoffnung" von Naomi Fontaine auf einem bunten Tuch liegend

Ein Roman über eine junge, unerfahrene, aber engagierte Lehrerin an einer deutschen sogenannten Brennpunkt-Schule könnte ganz ähnlich funktionieren. Der Klappentext betont zwar das Leben der Innu, darum geht es im Roman auch, aber nur am Rande. Soziale und familiäre Probleme der Heranwachsenden kennen wir so ähnlich ja auch hier. Die Ich-Erzählerin kommt mit all ihren Selbstzweifeln und Hoffnungen in eine erst einmal geschlossene Gesellschaft, sie ist die Außenseiterin, nicht nur an der Schule, und fällt in tiefe Einsamkeit. Dabei ist sie kaum älter als ihre Schülerinnen. Schicksalsschläge und die gemeinsame, für alle anspruchsvolle Arbeit in der Theater-AG sowie ein Schulausflug in die winterliche Wildnis – und im Norden Kanadas ist die Natur ja nun wirklich wild und unerbittlich – machen aus Schulklasse und Lehrerin ein Team. Doch nicht ohne bittere Verluste: Nicht alle werden den Abschluss schaffen und auch der Weg der Lehrerin verläuft so gar nicht wie geplant.

Ich will nicht zu viel erzählen, der Roman ist eh recht kurz. Sprachlich hat mir Richard Wagamese wesentlich besser gefallen (im Blog hier und hier), seine Erzählungen sind auch vielschichtiger. Naomi Fontaines kleinen Roman über eine Reservatsschule voller Konflikte und Hoffnungen würde ich aber jedem empfehlen, der sich für Pädagogik und die Arbeit mit eher schwierigen Jugendlichen interessiert. Die Art, wie Yammie einen Zugang zu den Schülern findet und wie sie sich selbst dadurch verändert, wie ermutigend auch kleine Schritte sein können für alle Beteiligten – das ist gelungen und schnörkellos erzählt. Und dass ausgerechnet eine herausfordernde Theaterinszenierung den Höhepunkt des Schuljahres bildet, erfreut natürlich mein Theater-Herz besonders.

HilDa

Noch ein kleiner Tipp für alle, die vielleicht noch mehr Literatur aus Kanada entdecken möchten: Margaret Atwood hat eine nicht nur informative, sondern auch amüsante Literaturgeschichte des Landes geschrieben: Survival – ein Streifzug durch die kanadische Literatur.

Buchtipp: Into the wild

Vor einiger Zeit hat mich mal wieder die Lust an Reiseberichten gepackt. Bei meiner Recherche nach interessanten Titeln stieß ich unter anderem auf Into the wild von Jon Krakauer, das wir in englischer Sprache im Bestand haben.

Die Geschichte war gleichzeitig faszinierend aber auch äußerst tragisch. Ein junger Mann, Christopher McCandless, zieht nach dem Studium scheinbar ziellos durch die USA, den Kontakt zu seiner Familie hat er abgebrochen. Sein großer Traum: in die Wildnis von Alaska aufbrechen und dort für eine Weile ganz allein überleben. In Alaska kommt er schließlich an, doch der Traum endet damit, dass einige Reisende im August 1992 die Leiche von Chris McCandless auffinden.

Wie konnte es soweit kommen? Wer war Chris McCandless? Was veranlasste ihn zu seiner zwei jährigen Reise durch die USA? Was faszinierte ihn so sehr an Alaska? Und was führte schlussendlich zu seinem Tod? All diese Fragen stellt Jon Krakauer in Into the wild. Der US-amerikanische Bergsteiger, Reporter und Autor wirft Blicke in die Kindheit und das Elternhaus von McCandless, begibt sich auf die Spuren seiner Reise und befragt Menschen, denen McCandless begegnet ist und bei denen er oft einen großen Eindruck hinterlassen hat. Und schließlich landen wir in Alaska und fragen uns, wie McCandless so unbedacht in die Wildnis wandern konnte. Und erfahren, dass er vielleicht gar nicht so unbedacht war, sondern eher eine Mischung aus jugendlichem Übermut und Pech zu seinem Tod geführt haben.

Während der Lektüre stellte ich selbst immer wieder fest, dass ich Chris McCandless Freiheitsdrang, seinen Wunsch nach Alleinsein mit der Natur unglaublich faszinierend fand – und gleichzeitig blieb vieles an ihm, wie etwa der Kontaktabbruch zu seiner Familie, für mich unverständlich. Jon Krakauer wirft viele spannende Blicke auf Chris McCandless Leben und seine Reise, wir lernen McCandless durch Erzählungen seiner Familie, durch Freunde und Bekannte, durch seine Briefe oder kurze Tagebucheinträge kennen, dabei bleibt er aber immer etwas ungreifbar. Sehr spannend fand ich darum auch zwei Kapitel, in denen Krakauer von seinen eigenen Erfahrungen als junger Bergsteiger spricht, durch die man einen verständnisvolleren Blick auf viele scheinbar unüberlegte und naive Handlungen von McCandless erhält.

Zum Schluss bleibt der Eindruck, der auch im Buch erwähnt wird, dass McCandless in der falschen Zeit lebte, dass er in einer Welt, in der es noch mehr weiße Flecken auf der Karte gab, vielleicht besser aufgehoben gewesen wäre.

Es war auch mal wieder ein Buch, nach dem es mich nun in den Fingern juckt, auch die anderen Bücher von Jon Krakauer am besten alle gleich sofort zu lesen. Im Bestand haben wir noch ein Buch, in dem er von einem desaströsen Mount Everest Abstieg berichtet, bei dem er selbst beteiligt war. Ich glaube das wird nach meinem nächsten Abstecher in die Geographie-Abteilung auf meinem Ausleihkonto landen…

lga

Literaturtage 2022 – persönliche Nachlese #3

Zweimal habe ich hier schon meine Gedanken zu meinen Literaturtage-Lektüren und -Eindrücken aufgeschrieben (hier und hier), dies ist der letzte Teil. Zu den Büchern von Jaroslav Rudiš und Natascha Wodin hatte meine Kollegin Juliane schon etwas geschrieben (hier und hier). Marica Bodrožićs außergewöhnliches Buch wollte ich nach der wunderbaren Lesung am 24. Oktober eigentlich auch noch lesen, weil mir die poetische Sprache sehr gefallen hat. Aber, ach, vielleicht später mal.

Moderator Klaus G. Loest und Schriftstellerin Marica Bodrožić auf der Literaturbühne
am 24. Oktober 2022 (©KlausHansen)

Zuerst einmal beende ich meine persönliche Nachlese zu den diesjährigen Literaturtagen mit folgenden beiden Titeln. Das macht dann immerhin sieben von zehn – das ist doch auch kein schlechter Schnitt. 🤗


Katerina Poladjan: Zukunftsmusik

Die Musik im Radio kündigt Veränderungen an. Wenn der Trauermarsch auf allen Kanälen gespielt wird, ist wohl wieder irgendein hoher Politiker, vielleicht der alte Generalsekretär selbst gestorben an diesem 11. März 1985. Doch was sind da schon für Veränderungen zu erwarten. Da sind die Bewohner der sowjetischen Kommunalka irgendwo östlich von Moskau, auf engem Raum müssen mehrere Personen zusammenleben, eine zufällig zusammengewürfelte Lebensgemeinschaft, in der eigentlich kein Platz für individuelle Entfaltung ist. Und doch haben alle ihre Geheimnisse. Und ihre Träume.

Die Trauermusik aus dem Radio könnte ja vielleicht doch die Ouvertüre zu einer Zeitenwende werden. Oder könnte das kleine, etwas ausufernde Privatkonzert in der Gemeinschaftsküche den Durchbruch bringen? Vorausgesetzt Janka erhält noch rechtzeitig ihre neue Gitarre. Oder ist es die Liebe, die neue, unerwartete Perspektiven schafft? Oder das einfache Spiel eines Kindes? Oder die hochfliegenden Träume der Stillen und Unauffälligen, von denen man es zuletzt erwartet hätte? Kommen die erhofften Veränderungen von außen oder von innen? Oder bricht doch wieder nur alle Hoffnung zusammen und fällt in Schutt und Asche?

Katerina Poladjan beschreibt sehr realistisch den Alltag gegen Ende der Sowjetunion. Ein einziger Tag im Leben dieser kleinen Wohngemeinschaft steht exemplarisch für die Sehnsüchte und Hoffnungen einer untergehenden Zeit. Die Autorin öffnet mit surrealistischen Sequenzen den Zukunftsblick der Protagonisten. Und ein Leser mit dem Wissen von heute fragt sich angesichts der aktuellen Situation in Russland, was sich seit dem vorigen Jahrhundert denn wirklich verändert hat für die Menschen dort.

Nach „Hier sind Löwen“ hat mich das Buch überrascht, „Zukunftsmusik“ hat eine andere Sprache und eine eigene Poesie der Bilder. Ein Roman, bei dem man unwillkürlich Bezüge zur Gegenwart sucht. Die Menschen des Romans haben sich ihre Zukunft so wohl nicht erträumt.

Autorin Katerina Poladjan und Moderatorin Iulia Capros bei der Lesung
am 18. Oktober 2022 (©KlausHansen)

Ulf Erdmann Ziegler: Eine andere Epoche

Eine andere Epoche – oder könnte man es auch eine „Zeitenwende“ nennen? Dieser Begriff fällt ja immer wieder in diesem doch noch recht jungen Jahrhundert; und jetzt wird er gar Wort des Jahres 2022. Nun ja.

Im politischen Roman von Ulf Erdmann Ziegler geht es um das Jahr 2011 und seine Folgen: um die Erkenntnisse, dass das terroristische NSU-Netzwerk für mindestens 10 Morde sowie Bombenanschläge und Banküberfälle verantwortlich ist; und um den Politskandal, der den damaligen Bundespräsidenten zum Rücktritt zwang. Eine ausführlichere Inhaltsbeschreibung des Romans findet Ihr in unserem Artikel zur Lesung am 12. Oktober.

Beim Lesen ist mir bewusst geworden, wie viele Details aus diesen Jahren mir entweder schon wieder entfallen sind oder die ich damals vielleicht gar nicht wahrgenommen habe. Wir waren geschockt, ja, doch wie schnell sind wir wieder zur Tagesordnung übergegangen. Dabei habe ich mich durchaus für gut informiert gehalten. Aber war ich nicht auch müde, von immer neuen Ermittlungspannen und Vertuschungsversuchen zu lesen? Habe ich mich auch lieber von einer miesen Skandalgeschichte ablenken lassen?

Und dann jetzt die aktuellen Nachrichten: wieder Rechtsterroristen, die einen gewaltsamen Umsturz und die Abschaffung unserer Demokratie geplant haben. Wieder werden sie als einzelne Wirrköpfe dargestellt und verharmlost. Wieder ist da der begründete Verdacht, dass es sogar in den Reihen der Ermittler und der Justiz mehr Sympathisanten gibt, als man wahr haben will. Und eben nicht nur Sympathisanten, auch Mittäter und Helfer.

Ich hätte der Lesung mit Ulf Erdmann Ziegler mehr Zuschauer gewünscht. Das Buch kann ich jedenfalls nur empfehlen!

Autor Ulf Erdmann Ziegler und Moderator Dr. Udo Witthaus auf der Literaturbühne
am 18. Oktober 2022 (©KlausHansen)

Nach den Literaturtagen ist vor den Literaturtagen. Das nächste Bücherjahr verspricht wieder aufregend zu werden, die ersten Gespräche und Planungen für unsere Herbst-Lesungen laufen bereits: Literaturtage Bielefeld 2023. Freut Euch auf den Oktober.

Das ganze Jahr über wird es Lesungen in der Stadtbibliothek geben: durch die Literarische Gesellschaft, im Rahmen der Antirassismuswochen Bielefeld oder mit anderen Kooperationspartnern. Und es soll auch wieder einzelne Lesungen in den Stadtteilbibliotheken geben. Die Termine werden über unseren Online-Kalender und die Presse bekannt gegeben.

Bis dahin viel Freude beim Lesen.

HilDa