Zweimal habe ich hier schon meine Gedanken zu meinen Literaturtage-Lektüren und -Eindrücken aufgeschrieben (hier und hier), dies ist der letzte Teil. Zu den Büchern von Jaroslav Rudiš und Natascha Wodin hatte meine Kollegin Juliane schon etwas geschrieben (hier und hier). Marica Bodrožićs außergewöhnliches Buch wollte ich nach der wunderbaren Lesung am 24. Oktober eigentlich auch noch lesen, weil mir die poetische Sprache sehr gefallen hat. Aber, ach, vielleicht später mal.

am 24. Oktober 2022 (©KlausHansen)
Zuerst einmal beende ich meine persönliche Nachlese zu den diesjährigen Literaturtagen mit folgenden beiden Titeln. Das macht dann immerhin sieben von zehn – das ist doch auch kein schlechter Schnitt. 🤗
Katerina Poladjan: Zukunftsmusik

Die Musik im Radio kündigt Veränderungen an. Wenn der Trauermarsch auf allen Kanälen gespielt wird, ist wohl wieder irgendein hoher Politiker, vielleicht der alte Generalsekretär selbst gestorben an diesem 11. März 1985. Doch was sind da schon für Veränderungen zu erwarten. Da sind die Bewohner der sowjetischen Kommunalka irgendwo östlich von Moskau, auf engem Raum müssen mehrere Personen zusammenleben, eine zufällig zusammengewürfelte Lebensgemeinschaft, in der eigentlich kein Platz für individuelle Entfaltung ist. Und doch haben alle ihre Geheimnisse. Und ihre Träume.
Die Trauermusik aus dem Radio könnte ja vielleicht doch die Ouvertüre zu einer Zeitenwende werden. Oder könnte das kleine, etwas ausufernde Privatkonzert in der Gemeinschaftsküche den Durchbruch bringen? Vorausgesetzt Janka erhält noch rechtzeitig ihre neue Gitarre. Oder ist es die Liebe, die neue, unerwartete Perspektiven schafft? Oder das einfache Spiel eines Kindes? Oder die hochfliegenden Träume der Stillen und Unauffälligen, von denen man es zuletzt erwartet hätte? Kommen die erhofften Veränderungen von außen oder von innen? Oder bricht doch wieder nur alle Hoffnung zusammen und fällt in Schutt und Asche?
Katerina Poladjan beschreibt sehr realistisch den Alltag gegen Ende der Sowjetunion. Ein einziger Tag im Leben dieser kleinen Wohngemeinschaft steht exemplarisch für die Sehnsüchte und Hoffnungen einer untergehenden Zeit. Die Autorin öffnet mit surrealistischen Sequenzen den Zukunftsblick der Protagonisten. Und ein Leser mit dem Wissen von heute fragt sich angesichts der aktuellen Situation in Russland, was sich seit dem vorigen Jahrhundert denn wirklich verändert hat für die Menschen dort.
Nach „Hier sind Löwen“ hat mich das Buch überrascht, „Zukunftsmusik“ hat eine andere Sprache und eine eigene Poesie der Bilder. Ein Roman, bei dem man unwillkürlich Bezüge zur Gegenwart sucht. Die Menschen des Romans haben sich ihre Zukunft so wohl nicht erträumt.

am 18. Oktober 2022 (©KlausHansen)
Ulf Erdmann Ziegler: Eine andere Epoche

Eine andere Epoche – oder könnte man es auch eine „Zeitenwende“ nennen? Dieser Begriff fällt ja immer wieder in diesem doch noch recht jungen Jahrhundert; und jetzt wird er gar Wort des Jahres 2022. Nun ja.
Im politischen Roman von Ulf Erdmann Ziegler geht es um das Jahr 2011 und seine Folgen: um die Erkenntnisse, dass das terroristische NSU-Netzwerk für mindestens 10 Morde sowie Bombenanschläge und Banküberfälle verantwortlich ist; und um den Politskandal, der den damaligen Bundespräsidenten zum Rücktritt zwang. Eine ausführlichere Inhaltsbeschreibung des Romans findet Ihr in unserem Artikel zur Lesung am 12. Oktober.
Beim Lesen ist mir bewusst geworden, wie viele Details aus diesen Jahren mir entweder schon wieder entfallen sind oder die ich damals vielleicht gar nicht wahrgenommen habe. Wir waren geschockt, ja, doch wie schnell sind wir wieder zur Tagesordnung übergegangen. Dabei habe ich mich durchaus für gut informiert gehalten. Aber war ich nicht auch müde, von immer neuen Ermittlungspannen und Vertuschungsversuchen zu lesen? Habe ich mich auch lieber von einer miesen Skandalgeschichte ablenken lassen?
Und dann jetzt die aktuellen Nachrichten: wieder Rechtsterroristen, die einen gewaltsamen Umsturz und die Abschaffung unserer Demokratie geplant haben. Wieder werden sie als einzelne Wirrköpfe dargestellt und verharmlost. Wieder ist da der begründete Verdacht, dass es sogar in den Reihen der Ermittler und der Justiz mehr Sympathisanten gibt, als man wahr haben will. Und eben nicht nur Sympathisanten, auch Mittäter und Helfer.
Ich hätte der Lesung mit Ulf Erdmann Ziegler mehr Zuschauer gewünscht. Das Buch kann ich jedenfalls nur empfehlen!

am 18. Oktober 2022 (©KlausHansen)
Nach den Literaturtagen ist vor den Literaturtagen. Das nächste Bücherjahr verspricht wieder aufregend zu werden, die ersten Gespräche und Planungen für unsere Herbst-Lesungen laufen bereits: Literaturtage Bielefeld 2023. Freut Euch auf den Oktober.
Das ganze Jahr über wird es Lesungen in der Stadtbibliothek geben: durch die Literarische Gesellschaft, im Rahmen der Antirassismuswochen Bielefeld oder mit anderen Kooperationspartnern. Und es soll auch wieder einzelne Lesungen in den Stadtteilbibliotheken geben. Die Termine werden über unseren Online-Kalender und die Presse bekannt gegeben.
Bis dahin viel Freude beim Lesen.
HilDa