„Es war das Unausgesprochene, das mich beschäftigte, etwas war zwischen uns nie in Worte gefasst worden.“
Aber Iris Wolff vermag in Worte zu fassen. Sie breitet in wunderbar zarten Bildern eine verlorene Welt vor uns aus: die Welt einer abrupt endenden Kindheit, die Welt einer (noch) intakten Großfamilie und einer tiefen Mädchenfreundschaft – überschattet von einem Geheimnis – , nicht zuletzt die Welt einer ersten Liebe. Und die Welt einer untergehenden Kultur, einer Landschaft und einer Heimat. Der Roman spielt in Siebenbürgen, überwiegend in Hermannstadt, in den Jahren 1943/44; er endet kurz nach dem Frontwechsel Rumäniens 1944. Alles bleibt grüner, harmonischer und schöner in der Erinnerung, als es wohl je war – alles wird durch Ideologie und Krieg zerstört, durch Hass zerrissen, durch Flucht und Vertreibung verloren sein.
„Unsere Begegnung schließt die Erinnerung an die letzten Jahre ein, in denen es uns als Großfamilie gab.“
Iris Wolff lässt die Geschichte von Ella erzählen. Offensichtlich aus großer zeitlicher Distanz blickt sie zurück auf diese prägenden Monate ihrer Jugendzeit, Monate eines unaufhaltsamen Wandels – und Verlustes. Es beginnt mit einem Unfall und einer Rettung, aus der eine ungewöhnliche Mädchenfreundschaft erwächst, ungewöhnlich wegen der Seelenverwandtschaft, die Ella gleich auf den ersten Blick spürt, und weil die beiden Mädchen aus ganz unterschiedlichen Gesellschaftsklassen und sozialen Verhältnissen kommen. Die Zeit mit Harriet bleibt Ella so klar in Erinnerung, Iris Wolff lässt sie detailliert erzählen. Sie beschreibt sehr genau und lebendig die Natur, das Zusammenleben, die einzelnen Personen, vor allem die Gefühle der Teenager.
„Unsere Geschichte wurde nie zu Ende erzählt, doch wenn ich die Augen schließe, sehe ich die Bilder unserer Freundschaft vor mir. Sie haben auch über die Zeit nichts von ihrer Klarheit und Intensität verloren. Sie tauchen auf, verlieren ihre Formen, fügen sich neu zusammen, wandern mit dem Lidschlag, doch sie verflüchtigen sich nicht.“
Das Zeitgeschehen bleibt anfangs noch im Hintergrund, aber immer gegenwärtig: Der Krieg rückt näher, bestimmt mehr und mehr den Alltag. Erst sind es die Aufmärsche und die Freiwilligen, die Ängste und Sorgen der Mütter, die ersten Verlustmeldungen in der Nachbarschaft.
Das Geheimnis, das die beste Freundin umgibt, die bereits ihre Mutter verloren hat, vermag Ella nicht auf den großen Verlust in ihrem Leben vorzubereiten: Alles ist mit einem Schlag anders. Das bisher so beständige und vertraute Umfeld verwandelt sich nicht nur im politischen Umbruch, sondern auch im Privaten. Die Trauer wird bleiben und alles überschatten – nur die Erinnerung bringt alles zum Leuchten.
Iris Wolff findet Metaphern, die ihren Beschreibungen diese Leuchtkraft und poetische Leichtigkeit geben. Sehr berührt haben mich zum einen die weiblichen Charaktere in diesem Roman, die beiden Mädchen sowie Ellas Mutter und ihre Großmutter; zum anderen diese intensive Trauer am Ende des Buches.
„Jener dunklen, verborgenen Stelle, der nie zu begreifenden Sinnlosigkeit des Verlusts, …“
ist dieser Roman gewidmet, so scheint mir.
(Alle Zitate sind von der letzten Seite des Romans)
Iris Wolffs neuer Roman „Die Unschärfe der Welt“ ist übrigens hauptsächlich in der Nachbarregion Banat angesiedelt. Ich bin gespannt auf die Lesung und das Gespräch mit der Autorin am 27. Oktober im Rahmen der Literaturtage Bielefeld 2020. „Leuchtende Schatten“ habe ich gelesen, weil der neue Roman erst Ende August erschienen ist – kurz nachdem er schon auf der Longlist zum Deutschen Buchpreis genannt wurde. Meine Kollegin, die „Die Unschärfe der Welt“ bereits vorab gelesen hat, ist jedenfalls begeistert.
Katalogdaten zu „Leuchtende Schatten“ und zu allen Werken der Autorin in unserem Bibliotheksbestand.
Übrigens gibt es in der WDR-Mediathek in der Reihe „Wunderschön!“ eine Folge „Geheimnisvolles Siebenbürgen – Reise in eine andere Zeit“, der Film widmet sich in fast 90 Minuten dem heutigen Siebenbürgen und zeigt auch einige Bilder aus Hermannstadt. Wer sich also ein bisschen auf diese Landschaft und Kulturregion einstimmen will – hier entlang, bitte.
HilDa
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