Die kleine Meerjungfrau
von
Hans Christian Andersen
Dieses Märchen hat mich im letzten Jahr begleitet, darum habe ich mir zu Weihnachten eine besonders schöne Buchausgabe geschenkt:
wegen der Pop-Up- und Dreh-Elemente nicht gerade bibliotheksgeeignet, wohl auch nicht für kleine Kinder gedacht, sondern eher etwas für Sammler und Liebhaber. Mich erinnerten die Illustrationen an das Bühnenbild einer Theaterinszenierung.
Das Designteam MinaLima, berühmt für die grafisch-visuelle Gestaltung der Harry-Potter-Filme, gibt besonders dem titelgebenden ersten Märchen des Bandes eine bunte, verspielte Note.
Das prächtige Buch haben wir nicht in der Bibliothek, aber hier die bibliografischen Daten:
Die kleine Meerjungfrau und andere Märchen / von Hans Christian Andersen. Illustriert von MinaLima Design. – Münster : Coppenrath, 2018
Wirklich überrascht hat mich aber der Text der Erzählung. Ich hatte geglaubt, das Märchen längst zu kennen, doch wahrscheinlich hatte ich bisher nur gekürzte oder veränderte Versionen gelesen. Die Märchenerzählung ist länger als ich gedacht hätte, enthält schöne Beschreibungen der Unterwasserwelt (von der die Leser zu Andersens Zeiten ja keine Farbfotos oder Fernsehbilder kennen konnten) und ein für mich doch sehr überraschendes Ende.

Illustration aus dem Buch
Die kleine Meerjungfrau, die übrigens bei Andersen nie bei einem Namen genannt wird, ist schon von den Menschen fasziniert, lange bevor sie überhaupt an die Wasseroberfläche darf, um die Welt zu erkunden. Als sie sich dann auch noch in einen Prinzen verliebt, will sie ihr Wasserleben aufgeben, opfert sogar ihre zauberhafte Stimme, nur um Beine zu erhalten und bei den Menschen leben zu können. Jeder Schritt auf ihren neuen Beinen ist ungeheuer schmerzhaft, ein Schmerz, den sie aus Liebe erträgt. Doch der Prinz liebt eine andere. Diese Szene war für mich eine Überraschung, denn er ist nicht etwa untreu, nein: Er bietet der fremden, stummen Frau, die er am Strand scheinbar hilflos findet, seine Freundschaft an, nimmt sie ohne Bedingungen bei sich am Hofe auf und erzählt ihr gleich freimütig, dass sie seiner großen Liebe ähnele – er macht ihr nie weitergehende Hoffnungen. Natürlich ahnt er auch nicht, was für Folgen es für die verwandelte Nixe hat, wenn ihre Liebe nicht erwidert wird. Die Hochzeit mit der anderen bedeutet für sie, dass der Zauber vorbei ist, sie muss bei Sonnenaufgang zu Meerschaum zerfließen.

Illustration aus dem Buch
Die Ermordung des Prinzen könnte sie zwar retten, ihr die Rückkehr in die unbeschwerte Unterwasserwelt ermöglichen. Doch sie wählt lieber den Tod.
Ein trauriges Ende.
Doch nein, nicht das Ende, denn das Märchen geht noch weiter: Der Meerjungfrau wird für ihre gute Tat das angeboten, was eigentlich nur Menschen gewinnen können – eine Seele und damit ein ewiges Leben. Aus der Nixe, die ein Mensch sein wollte, wird ein Luftwesen, das sich zwar noch 300 Jahre lang durch weitere gute Werke bewähren muss, aber dann Unsterblichkeit erlangen kann.
Eine unglückliche, nicht erwiderte Liebe – die Interpreten verweisen auf verschiedene biografische Bezüge in Andersens Leben, die ihn zu diesem Märchen inspiriert haben sollen. Uns Lesern fallen sicher auch eigene Erfahrungen ein: die Liebe als süßlich-plüschige Glückseligkeit, wie sie am klassischen Ende eines Märchens zu stehen hat – ach, im Leben verläuft’s oft anders. Hans Christian Andersen schreibt über den Schmerz, über die Enttäuschung, aber auch über den Sieg der wahren Liebe, die dem anderen das Glück wünscht und gönnt, die loslassen kann, selbst zum Preis der eigenen Einsamkeit. Kein Happy End für jeden, aber auch kein trauriges oder gar hoffnungsloses Ende. Andersens phantastische Erzählung von 1837 (dänischer Originaltitel: Den lille Havfrue) bietet tatsächlich mehr Realismus als die vielen Adaptionen á la Hollywood, die wir heute für kindgerechter halten, weil sie nicht so traurig sind.
Nun ja.
Ich habe mir Disneys Arielle, die Meerjungfrau (The Little Mermaid, 1989) noch immer nicht angesehen, sollte es aber vielleicht mal machen, denn laut Lexikon des Internationalen Films ist der Trickfilm sentimental aber mit viel Komik, mitreißend und fantasievoll, auch wenn er mit „Andersens tief melancholischer Vorlage kaum noch etwas zu tun hat“.
Andersens Märchenstil gefällt mir jedenfalls ausgesprochen gut, die Sprache in der Übersetzung meiner neuen Märchenausgabe auch. Ich freue mich auf die anderen Erzählungen (Die Nachtigall, Das hässliche Entlein, Die Schneekönigin, …), da gibt es sicher noch so manche überraschende Entdeckung – selbst bei den „eigentlich“ bekannten.
Wenn Ihr selber einmal wieder „Die kleine Meerjungfrau“ oder auch andere Märchen von Hans Christian Andersen lesen möchtet, empfehle ich aus der Stadtbibliothek folgende Ausgaben:
Für Kinder:
Die kleine Meerjungfrau / nach der Geschichte von Hans Christian Andersen illustriert von Chihiro Iwasaki; Textbearbeitung von Rosi Plattner. – Salzburg : Bilderbuchstudio Neugebauer, 1984.
> Katalogdaten hier
Schon eine ältere Bilderbuchausgabe, aber mir gefallen die aquarellierten Zeichnungen der japanischen Künstlerin Chihiro Iwasaki sehr (mehr über sie in der englischsprachigen Wikipedia).
Die kleine Seejungfrau / Hans Christian Andersen. Nacherzählt von Arnica Esterl. Illustriert von Anastassija Archipowa. – Esslingen ; Wien : Esslinger, 2005.
Die schönsten Märchen / von Hans Christian Andersen. Mit Bildern von Anastassija Archipowa. Einzelne Märchen nacherzählt von Arnica Esterl. – Esslingen ; Wien : Esslinger Verl. Schreiber, 2000.
> Katalogdaten (u.a.) hier.
Die russische Malerin Anastassija Archipowa illustriert Andersens Märchen detailreich und sehr phantasievoll.
Märchen : Bilder von Nikolaus Heidelbach / Hans Christian Andersen. Aus dem Dänischen von Albrecht Leonhardt. – Weinheim ; Basel : Beltz, 2004.
> Katalogdaten hier
Vom Format her vielleicht doch eher ein Buch für Erwachsene, aber ideal zum Vorlesen. Der preisgekrönte Bilderbuchillustrator (und Autor) Nikolaus Heidelbach hat einen ganz eigenen Bilderschatz zu Andersens Märchen geschaffen: schön und voller Details, hintergründig und saftig.
Für Erwachsene:
Der Schatten : Hans Christian Andersens Märchen – gesehen von Günter Grass – Göttingen : Steidl, 2004.
> Katalogdaten hier
Natürlich kann auch aus diesem opulenten Band vorgelesen werden, aber die Aufmachung und vor allem die Lithografien von Günter Grass zielen eindeutig auf den erwachsenen Leser und Betrachter und interpretieren die bekannten und unbekannten Märchen neu.
Viel Freude beim Lesen.
HilDa